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Unsere Buchtipps für November

Unsere Buchtipps für November 2023
Unsere Buchtipps für November © Verlage

Ein Politkrimi aus Italien, ein Büchlein gegen Propaganda, William Boyds „Der Romantiker“ und große Lyrik von Nichita Danilov- in unseren Buchtipps für November

Nichita Danilov - „Vulturii orbi. Die blinden Adler“ (edition pudelundpinscher)

In Sarmatien, hieß dereinst ein grandioser Dokumentarfilm von Voelker Koepp. Czernowitz, Bukowina, Moldau – allmählich, endlich, kehren die Orte, die Menschen in unser Bewusstsein zurück. Nichita Danilov ist auf dem Dorf aufgewachsen, lebt heute in Iași, ist einer der wichtigsten Lyriker aus dem legendären Kreis der „80er Generation“. In seinen Texten (aus 40 Jahren) verdichtet er die realen und mystischen Erfahrungswelten eines Lebens an den Grenzen, der Sprachen, der Kulturen, im Zentrum der immer neuen, gewalttätigen Umbrüche. Beschwörung der archaischen Dorfwelt der Kindheit, der alten Glaubenswelten gegen Proletkult, kommunistische Repression und das Morden. Bildstark, sprachmächtig, melancholisch, ironisch. „Ich wurde geboren, als Gott schon tot war.“ „Ich spreche in meinem Namen / als spräche ich im Namen des Staubs auf den Straßen.“ Oder: „Wir krochen auf Knien / auf den Spuren der Vorfahren, deren unter der / Kruste noch rauchenden Erde / wir uns mechanisch bedienten / um sie in fremdes Land zu verbringen / und sie vor die Fahnen auf Halbmast zu streuen.“ Und: „Große Krähen kreisen über dem Buch der Geschichte. / Leise verlassen die Zuschauer den Saal.“ Eine (grandiose) Auswahl, erstmals auf Deutsch – und mit einem instruktiven Nachwort – von Jan Koneffke.
Hermann Barth

William Boyd - „Der Romantiker“ (Kampa)

„Nackt tranken sie Wein, stärkten sich mit Trauben, Brot und Käse, rissen sich Schenkel von einem Brathähnchen ab, um wieder zu Kräften zu kommen.“ – Man darf die kleine erotische Episode durchaus als italienisches Intermezzo in diesem über sechshundert Seiten starken Roman bezeichnen, und doch wird Cashel Greville Ross die Contessa Raphaella Rezzo nie wieder vergessen in seinem Leben. Und was das für ein Leben war: Aufgewachsen in Irland und in Oxford als unehelicher Sohn eines Adligen, verwundet als junger Trommler in der Schlacht von Waterloo; als Soldat der East India Company erlebt er ein Massaker in Sri Lanka, in Pisa trifft er neben der Contessa auch Mary und Percy Bysshe Shelley sowie Lord Byron, veröffentlicht nach seiner Rückkehr nach London einen Erfolgsroman, wird betrogen und ins Schuldhaus gesperrt; wandert nach seiner Freilassung nach Amerika aus und versucht sich als Farmer und Bierbrauer; geht nach seiner Rückkehr auf Ostafrika-Expedition, um die Quelle des Nils zu entdecken, überlebt, und landet schließlich als Botschafter von Nicaragua in Triest, wo er einem illegalen Handel mit antiken griechischen Artefakten auf die Spur kommt ... William Boyd läuft nach ein paar eher schwächeren Büchern wieder zu ganz großer Form auf mit diesem rasanten Parcours-Ritt seines Lebemannes und Romantikers Cashel, der fast das ganze 19. Jahrhundert umfasst. Bravissimo.
Rainer Germann

Gianrico Carofiglio - „Groll“ (Folio)

Was die Opfer wirklich wollen, wäre die Wahrheit, legt Gianrico Carofiglio, der jahrelang als Richter, Senator und Anti-Mafia- Staatsanwalt gearbeitet hat, seiner Protagonistin Penelope Spada in den Mund. Und auf die Suche nach dieser begibt sich die ehemalige Spitzensportlerin und Staatsanwältin als mittlerweile private Ermittlerin in den besseren Kreisen Mailands. Ein einflussreicher Chirurg und Professor stirbt an einem Herzinfarkt, die Tochter glaubt nicht an einen natürlichen Tod und beschuldigt die junge zweite Ehefrau ihres Vaters eines (Auftrag-)Mordes. Spada beginnt das Umfeld des Mannes abzutasten, stellt fest, dass der Professor ein recht arrogantes Ekel war, der Freunde und Mitarbeiter düpierte und sich mit der neuen Frau ein TV-Sternchen als Vorzeigeobjekt zugelegt hat. Spada beginnt schon bald eine Art Freundschaft zur jungen Witwe aufzubauen, dass sie dabei von eigenen Dämonen aus ihrer Vergangenheit eingeholt wird, die sie mit exzessivem Sport aber auch Alkohol und Zigaretten zu vertreiben versucht, macht sie für den Leser um so greifbarer. Zum Schluss kommt aber der titelgebende Groll (ital. Originaltitel „Rancore“), der zum Tod des Mannes geführt hat, aus einer ganz anderen Ecke ... Carofiglio, der mit seinen „Avvocato Guerrieri“- Romanen bekannt geworden ist und in 28 Sprachen übersetzt wurde, legt hier einen leisen und psychologisch anspruchsvollen Krimi über Schuld und Sühne vor.
Rainer Germann

Jan Kuhlbrodt - „Krüppelpassion“ (Gans Verlag)

Beim alle zwei Jahre verliehenen Alfred-Döblin-Preis lohnt es sich für mich und Literaturfans generell hellhörig zu sein. Nicht so bekanntwie Bachmann-, Büchner- oder deutscher Buchpreis wurden bei dem Preis, für den die Schreibenden unter Ausschluss der Öffentlichkeit im literarischen Colloquium Berlin unveröffentlichte Texte vorlesen, über die Jahre mit Reinhard Jirgl, Libuše Moníková und Saša Stanišić drei Autoren und Autorinnen ausgezeichnet, die ich besonders gut finde. Dieses Jahr geht der Preis an Jan Kuhlbrodt und sein autobiografisches Werk „Krüppelpassion“, Untertitel „Vom Gehen“. Der Autor (*1966) leidet an multipler Sklerose und beschreibt in einem Mosaik von Anekdoten, Buchzitaten und Vignetten, wie „sein Körper langsam seine Gefolgschaft einstellt“. So schlau, pointiert und bitter, wie der Untertitel gewählt ist, gestaltet sich die gesamte Lektüre. Zwischen schonungslos offenen Erinnerungen, Beschreibungen des Alltags als Rollstuhlfahrer, dem Klammern an Literaturerfahrungen, existenziellen Reflexionen und konkreten Appellen nach größerer Aufmerksamkeit für Inklusion und alles was dazu gehört, wird das Thema „Leben“ sowie sein Schatten „Krankheit/Tod“ aus so vielen Perspektiven beleuchtet, dass man als Leser gerührt, informiert, erschrocken und auch in vielerlei Hinsicht motiviert aus der Lektüre herausgeht. Ein mehr als verdienter Preisträger.
Franz Furtner

Roberto Controneo - „Die Jahre aus Blei“ (Insel)

Es ist der Schock, der lange undenkbar war, der aber auch heute wieder brisante Aktualität hat: Wenn nämlich Machtintrigen, Menschenverachtung und Manipulationslust so weit gehen, auch die vermeintlich schärfsten ideologischen Grenzen zu überwinden. Roberto Cotroneo, lange Jahre Kulturjournalist für das Wochenmagazin „L’Espresso“ und auch literarisch eine der wichtigsten neuen Stimmen Italiens, leuchtet dunkle Jahre der gar nicht so fernen Vergangenheit neu aus – gestützt auf präzise Recherchen und im Vertrauen darauf, dass Phantasie eine fast wahre Geschichte erzählen kann. Es geht um die Zeit der Anschlagsserien – durch die Roten Brigaden, aber auch durch Faschisten und Geheimdienste. Und natürlich steht der Mord am Ministerpräsidenten Aldo Moro, dessen genaue Hintergründe bis heute noch nicht vollständig aufgeklärt sind, im Zentrum. Man lernt Guilia kennen – die Tochter eines stramm linientreuen Kommunistenführers, die erst spät herausfindet, dass sie unwissentlich geheime Botengänge mit Informationen für Aldo Moros Entführer übernommen hatte. Und es geht um Cristiano, den Sohn eines Faschisten, der aus Protest gegen seinen Vater in den bewaffneten Kampf gezogen war und der in Argentinien zu einer neuen Identität fand. 30 Jahre später bringt sie ein mysteriöses Bekennerschreiben zusammen. Ein atemberaubender Politikkrimi, für dessen Lektüre man selbst am liebsten für ein paar Tage abtauchen möchte.
Rupert Sommer

Caitlin Johnstone - „Kleines Erste-Hilfe-Büchlein gegen Propaganda“ (Westend)

Propaganda: die beliebteste Kommunikationsform der Machthaber. Gedeiht überall dort, wo der Journalismus versagt oder nicht existiert und wo markttaugliche Qualifikation als Bildung verkauft wird. Also überall. Nicht doch! „Propaganda: Das ist das, was die anderen machen“, spottet Medien- Forscher Michael Meyen in Die Propaganda-Matrix, seiner exzellenten Analyse zum erbärmlichen Zustand der deutschen Massenmedien. Gleiches vermeldet die Journalistin und „Guerilla-Poetin“ Caitlin Johnstone mit Blick auf die vorwiegend US-amerikanischen Hirnwaschmaschinen. Auch dort hat Propaganda die spärlichen Reste von Journalismus abgelöst. 21 ihrer famosen US-Propagandafucking Blog-Kolumnen hat der ebenfalls famose Westend-Verlag in Buchform gepackt. Es geht um den immensen Einfluss der Rüstungslobby, direkt oder via von ihr bezahlter „Denkfabriken“, die Verfolgung Julian Assanges und den karrierefördernden Effekt von Arsch-Camping. Wer nach all den Waschgängen seitens Regierungs- und Konzernkuschelmedien sein Hirn lüften will, föhnt sich Johnstone in die Rübe. Und Meyen. Allerdings warnt die Autorin mit T. McKenna: „Der Preis der Vernunft in dieser Gesellschaft ist ein gewisses Maß an Entfremdung.“
Jonny Rieder