Lesen! Unsere Buchempfehlungen im Juni

Neue Bücher von Karl Ove Knausgård, Jérôme Ferrari, Dirk Schmidt und Ronald Reng

Karl Ove Knausgård – Die Schule der Nacht (Luchterhand)

Norwegens coole Literaturszene war beim Gastlandauftritt der Leipziger Frühjahrsbuchmesse zu entdecken. Ihr Gigant Karl Ove Knausgård hat den teuflisch guten Roman „Die Schule der Nacht“ mitgebracht, Teil 4 der bisher 3200 Seiten starken „Morgenstern“-Reihe, die gekonnt mit Elementen der Gothic Novel spielt. Am Anfang steht eine unheimliche Himmelserscheinung, die Menschen nicht sterben lässt. Anders als im autobiografischen Opus Magnum „Min Kamp“, das Knausgård weltberühmt machte, sprechen hier eine Vielzahl von authentischen, aber fiktiven Ich-Erzählern. Im neuen Band heißt er Kristian Hadeland, erfolgreicher Fotokünstler mit großer Retrospektive im New Yorker MoMA, und einer der Untoten, der schon durch die Vorgängerbände geistert. Wir lesen die schockierende Beichte eines mitleidslosen Egomanen, der 1985 aus der norwegischen Provinz an die Londoner Akademie geht, um koste was es wolle geniale Kunst zu schaffen. Auf nächtlichen Streifzügen trifft der 20-Jährige seinen Mephisto in Gestalt von Hans, einem schlaksigen „Besserwisser“, der ihn dazu bringt, radikal Neues zu wagen. Ein etwas anderer Bildungsweg beginnt mit spannenden Ausflügen in die britische Undergroundszene, darunter auch einer spooky lebensechten Avantgarde-Inszenierung von Marlowes Renaissance-„Doktor Faustus“. Tod und Vergänglichkeit werden zum Leitmotiv eines Werks, mit dem Kristian sämtliche Regeln bricht. Er schreckt nicht einmal davor zurück, den Suizidversuch seiner Schwester fotografisch zu verwerten. Aber Hochmut kommt vor dem tiefen Fall: Jahre später sitzt der einstige Star der Kunstwelt von Furcht und Reue gequält auf einer gottverlassenen Insel und möchte selbst seinem Leben ein Ende setzen. Doch Erlösung gibt es in der apokalyptischen Gegenwart nicht. Wie Mephisto-Hans es formuliert: „Die Hölle ist hier“!

Eveline Petraschka

Jérôme Ferrari – Nord Sentinelle (Secession)

„An jenem Abend hatte ich zum ersten Mal die sehr klare Eingebung, dass wir möglicherweise alle in der Hölle leben“ – Ferraris namenloser Ich-Erzähler ist ein dermaßen wortgewandter, spottender Zyniker, wie man ihm eher selten begegnet. Eine Messerattacke, die der Eiheimische Alexandre Romani auf den „Festlandfranzosen“ Alban nach einem Streit in Romanis Lokal verübte: Ausgehend von diesem Mord entfaltet der auf Korsika lebende Ferrari, dem wohl auch seine Heimat für das fiktive, vom Massentourismus überrollte „Nord Sentinelle“ dient, ein Panoptikum an wahnwitzigen Figuren, überwiegend aus dem Familienclan der Romanis, der sich geschickt eine führende Position mit mafiösen Strukturen auf der Insel geschaffen hat. Mörder und Banditen, Gastronomen und Hoteliers – alle verbunden durch egoistisches und eiskaltes Machtstreben. Tragikomisch erzählt der Prix Goncourt-Preisträger (für seinen Roman „Predigt auf den Untergang“, 2012) in einer unnachahmlichen poetisch-ironischen Sprache (in oft sehr langen Sät- zen) „vom Einheimischen und vom Reisenden“. Vorangestellt wird die Ge-schichte des Sultans Abu Bakr der 1855 dem britischen Entdeckungsreisenden Burton als erstem Ausländer Gastfreundschaft in seiner Stadt Harar gewährte. Diese fiel nur 20 Jahre später – der Kolonialismus nahm seinen Lauf. Heißt er heute Tourismus? Sollte man lesen – gerade vor der kommenden Urlaubssaison. 

Rainer Germann

Dir Schmidt – Die Kurve (Suhrkamp)

Better Call Carl: Er ist der Mann, der die Strippen zieht. Ein bisschen wie der geheimnisvolle Charlie aus der Fernsehserie und den Filmen mit den Engeln. Man sieht ihn nicht, man kennt ihn nicht. Und doch weiß Carl immer genau, was zu tun ist, wenn es Probleme gibt. Etwa dann, wenn ein todkranker Mafia-Boss aus Neapel ins wenig malerische Leverkusen kommt, um dort noch mal alte Rechnungen zu begleichen – und seine Nachfolge zu regeln. Ein anderer Carl-Kunde ist ein steinreicher Amerikaner, der wissen will, wo und wie seine Tochter in Berlin verschwunden – und gestorben – ist. Der Mann mit den vielen Telefonen steuert seine Helfer, die für ihn im oft gar nicht guten alten Deutschland die Drecksarbeit erledigen müssen. Betty etwa, die unerschrockene Allzweckwaffe. Oder Ridley, der mathematische hochbegabte Spinner mit dem gefährlich rabiaten Sextrieb. Spannend wird’s, als immer mehr schräges Licht durch die Fugen fällt, wenn die allzu perfekte Macht-Inszenierung Risse bekommt. Dann erfährt man nämlich doch endlich mehr über Carl und das titelgebende Jugendzentrum, in dem fast alle Beteiligten einst aus der Kurve getragen wurden. Nicht der ganz weite Wurf, aber ein packender, süffig abgeschmeckter Genre-Mix.

Rupert Sommer

Ronald Reng – Er kenne Herrn Benz nicht, sagt Herr Daimler (Piper)

Ronald Reng, Deutschlands Lieblingsautor für Fußballbücher, legt ein als Roman getarntes Sachbuch über die berühmtesten Autobauer der Weltgeschichte vor. Historisch belegte Fakten wechseln mit frei Erfundenem und Humoresken. Beim Joggen sinnierte Reng, selbst kein Autobesitzer, über die Rivalität der Kicker Lionel Messi und Cristiano Ronaldo, als er bei Kilometer sieben bei Carl Benz und Gottlieb Daimler landete. Nur 100 Ki-lometer Luftlinie voneinander entfernt tüftelten die Visionäre zeitgleich in. Mannheim und Bad Canstatt an der Erfindung des Benzinmotors und ignorierten den anderen, als gäbe es ihn nicht. Rund 150 Jahre später erzählt Reng, in 30 kurzweiligen Kapiteln, den Wettlauf zwischen dem jungen Techniker Benz, der mit dem Auto etwas Neues erfinden will, und dem Konstrukteur Daimler, für den sein Motor „so rhythmisch und schwungvoll wie ein Geigenquintett tönte.“ Beide könnten unterschiedlicher kaum sein, aber hielten auf ihre Art, unterstützt von ihren lebensklugen Frauen, am Lebenstraum fest. Dabei ernteten sie Hohn und Spott: Die pferdelosen Benziner wurden als lärmend, stinkend und der Kutsche unterlegen abgetan, das Label „Made in Germany“ galt als minderwertig. Rengs Roman fokussiert auf Menschen, nicht auf Autos und erzählt die Geschichte von Daimler und Benz faktentreu. Die fiktiven oder ausgeschmückten Szenen bringen die Charaktere auf ihrem abenteuerlichen, dramatischen und bizarren Weg zur Automobilität zum Leuchten. Was bleibt, ist der Mercedes-Stern, der den Namen von Daimler und Benz trägt. 

Wolgang Scheidt