Lesen! Unsere Buchempfehlungen im August

Neue Bücher von William Boyd, Chloe Dalton, Florian Scherzer und Graham Swift

William Boyd – Brennender Mond (Kampa)

„Ich bin wohl, was man einen »nützlichen Idioten« nennen könnte“, sagt Gabriel Dax und ist Anfang der 1960er Jahre als gut bezahlter „Bote“ mittendrin in einem trügerischen Spiel zwischen diversen Geheimdiensten. Ei-gentlich ist Gabriel ein recht erfolgreicher britischer Autor und Reisejournalist, der nach der einmaligen Chance den kongolesischen Ministerpräsidenten Lumumba in Léopoldville zu interviewen in den Fokus des MI6 rückt – genauer gesagt, sich im Netzwerk der geheimnisvollen und attraktiven Agentin Faith Green auch emotional gehörig verstrickt. Nach Lumumbas Ermordung machen diverse Kräfte Jagd auf Gabriels Tonbänder des Interviews, bei dem der Präsident bereits von Todesangst sprach und auch mehrere prominente Namen nannte, die ihm an den Kragen wollten. Nebenher hat Gabriel zudem mit der Aufarbeitung seines Kindheitstraumas, bei dem seine Mutter zu Tode kam und er nur knapp überlebte, mit Hilfe einer falschen deutschen Psychologin zu kämpfen; außerdem reift in ihm die Idee für ein neues Buch über Flüsse. Aber schon bald jagt Gabriel als Helfershelfer eines trunksüchtigen Doppelagenten durch halb Europa, tötet gar in Notwehr, landet schließlich auch noch im Bett mit seiner Auftraggeberin und stellt fest, dass sein Bruder als Diplomat tiefer in die ganze Sache verstrickt ist, als gut für ihn ist. Dem großen britischen Romancier William Boyd ist nach ein paar eher schwächeren Büchern wieder mal ein wunderbar intelligenter Agententhriller gelungen. Sehr britisch, sehr ironisch, sehr elegant – und der Auftakt zu einer Gabriel Dax-Trilogie. Must read! 

Rainer Germann

Chloe Dalton – Hase und ich (Klett.Cotta)

Passiert nicht alle Tage, dass ein Hasenbaby vor Dir sitzt, reglos mitten auf einem Feldweg. Überlässt Du Häschen seinem Schicksal als leichte Beute für Fuchs und Falke oder nimmst Du es mit nach Hause auf die Gefahr, dass es in freier Natur nicht mehr überleben kann? Wie füttert man einen 100 g leichten Winzling, und was für ein „Nest“ baut man ihm? Auch wenn der Feldhase kein Kaninchen und noch immer Terra incognita ist: Chloe Dalton hat (fast) alles richtig gemacht. Die Londoner Politikberaterin, die es im Lockdown in ihr altes Landhaus und in ein neues, stilles Leben verschlägt, lässt dem wilden Tier seine Freiheit, beobachtet genau und lernt das Staunen. „Hase und ich“, die wahre Geschichte einer wunderbaren Freundschaft, widerlegt gängige Klischees. „Ihr“ Hase, den sie mit Fläschchen aufzieht, frisst lieber Koriander als Karotten, zeigt sich nicht launisch, sondern als ruhiges Gewohnheitstier und gibt sich für einen Einzelgänger recht gesellig, wenn er sie morgens mit einem Trommelwirbel auf den Kissen weckt oder im Garten Fangen spielt. Aber was für eine Überraschung, als eines Tages Nachwuchs aus dem Vorhang hervorlugt und sich Hase als Häsin entpuppt. Kaum überraschend hat Daltons feine Mischung aus Entdeckungsreise, Selbstfindung und poetischer Naturbetrachtung es auf die einschlägige Sachbuchbestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur geschafft – eines dieser Bücher, die Dein Leben verändern können. 

Eveline Petraschka

Florian Scherzer – Die Marsianerin (Hirschkäfer)

Vielleicht liegt es daran, dass er in Bildern denkt: Florian Scherzer, lange Werbegrafiker bei Münchner Agenturen, mittlerweile Schullehrer in einer inklusiven Einrichtung, ist ein eher spät berufener Schriftsteller – aber was für einer! Mit seinem Debüt, dem von ihm selbstverständlich auch bis in liebevolle Ausstattungsdetails grafisch mitgestalteten Debüt-Roman „Neubayern“, stellte er einst den Heimatroman auf den Kopf und entwarf eine zeitlich entrückte, dann plötzlich beklemmend nahe Studie über Brutalität und Obrigkeitsterror. Mit „Die Marsianerin“ hat er nun ein neues Meisterwerk fertig gestellt – diesmal noch deutlich opulenter von ihm selbst illustriert mit Schwarz-Weiß-Bildtafeln, die an Stummfilm- oder Holzschnitt-Bildwelten erinnern und eine ganz starke Sogwirkung entfalten. Hineingezogen wird man in einen schauerlichen, leider ziemlich „echten“ Roman, der von Ausgrenzung, Zur-Schau-Stellung, von gequälten Mitmenschen und missbrauchten Schwächeren erzählt. Aber eben auch von einer Selbstermächtigung, die Mut macht: Die titelgebende eigenwillige Schönheit mit dem kantigen Kopf und den großen Mandelaugen sollte eigentlich auf Schaubuden-Spektakeln herumgereicht werden. Doch dann dreht Magdalena den Spieß um: Sie gründet selbst ein „Marsianisches Cabinett“, das den nur äußerlich Anderen einen sicheren Platz gibt. München-Kenner gruseln sich, als sie den Namen von Carl Gabriel lesen: Der Kino-Pionier war leider auch ein Geschäftemacher, der „Völkerschauen“ auf der Wiesn organisierte. Ein Buch, das mit Horror-Ästhetik spielt und ganz großes Gefühlskino bietet. Wow! 

Rupert Sommer

Graham Swift – Nach dem Krieg (dtv)

Zwölf Erzählungen versammelt der britische Autor in seinem neuesten Band, die der Frage nachgehen, was Krieg, Terror und gesellschaftliche Ausnahmezustände – wie zum Beispiel eine Pandemie – mit den Menschen anstellen, und wie sie sich ganz persönlich auf die jeweiligen Lebensumstände auswirken. Angesichts der weltweiten Kriege und Krisen eine sehr aktuelle Lektüre, die durch Swifts meisterhafte Prosa aber auch zeitlos wirkt. „Meinst du, das Ende der Welt kommt noch vor der Hochzeit?“, sagt Frank Green zu seiner Frau. Es ist Ende Oktober 1962, russische Marschflugkörper wurden nach Kuba verschifft, und Greens Tochter hat sich heulend in ihrem Zimmer eingesperrt – angesichts der Tatsache, dass ihre in 14 Tagen stattfindende Trauung wegen eines Atomkriegs ausfallen könnte. 1944 setzt sich Nora Armstrong neben einen schwarzen GI im Bus und löst einen Skandal aus. Später erfährt man einiges über ihren Vater, der schwarz vor Ruß aus der Kohlengrube kam und seine Wut mit Bier und Prügel besänftigte. Swift macht die Beklommenheit des Beamten gegenüber einem britisch-jüdischen Soldaten spürbar, der in einer deutschen Kleinstadt noch 1959 nach seiner verschollenen Familie sucht. Und er begleitet einen pensionierten Lungenarzt, der im Frühjahr 2020 wie ein Reservist wieder zum Krankenhausdienst einberufen wurde, bei seiner Fahrt durch eine gespenstisch leere Stadt. Eindrucksvoll und berührend sind diese Geschichten –und sie hallen lange nach.

Rainer Germann