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Große Fragen, tolle Typen: Ein Streifzug durch die ersten Premieren der neuen Spielzeit

Fieser Fuchs, exquisites Ensemble: Reineke Fuchs am Marstall
Fieser Fuchs, exquisites Ensemble: Reineke Fuchs am Marstall © Bayerisches Staatsschauspiel

Ein Streifzug durch die ersten Premieren der neuen Spielzeit im Volkstheater, Kammerspielen, Marstall und Metropoltheater

Klassismus ist so ein Wort, das uns die neoliberalen Zeiten gebracht haben: das neue Oben und Unten. Das Volkstheater stellt dazu ein grandioses Beziehungskarussell auf die Bühne. Karussell wörtlich gemeint: glitzernd dreht es sich im silbrigen Raum, „Die Zofen“ beturnen es heimlich, denn eigentlich ist es das Spielzeug der Gnädigen Frau. Aus Jean Genets Stück von den zwei Bediensteten, die die Herrin bewundern wie verachten und sich, wenn sie weg ist, in ihren Kleidern in was Besseres träumen, macht Regisseurin Lucia Bihler ein beißendes, witziges, auch trauriges Wechselspiel von Solidarität, Misstrauen und Rache. Jakob Immervoll, Lukas Darnstädt und Silas Breiding (als Gnädige) sind ein grandioses, lustvolles Trio infernale in Stummfilm-Optik. Der Jubel: lang.

Vom Aufwachsen in der Sowjetunion der 1930er Jahre bis ins Ankommen in Deutschland: Sasha Marianna Salzmann erzählt in ihrem Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ (erschienen 2021) von Frauen und Töchtern und den Prägungen und Brüchen im Leben. In einer angeranzten Kneipe puzzelt sich Jan Bosses Inszenierung an den Kammerspielen zum 50. Geburtstag von Lena (Wiebke Puls) durch die Erinnerungen ihres eigenen und des Lebens ihrer Freundin Tatjana (Johanna Eiworth) – Teenager, Schwangerschaft, Karriere, Heimatverlust, politische Umstände und Umbrüche spiegeln sich im Privaten –, und wie ihre Töchter damit umgehen. Ein vielschichtiger Trip durchs Menschsein, melancholisch, auch mal rätselhaft, tief beeindruckend gespielt (u.a. mit Maren Solty, Svetlana Belesova, Edith Saldanha, Edmund Telgenkämper). Großer Beifall.

Nicht nur für Kinder – ausdrücklich für Menschen ab 10 ist das knallbunte „schwindelerregende Musical“, das Schorsch Kamerun in den Marstall gezaubert hat. Der Hamburger Musiker – Sänger der „Goldenen Zitronen“ – hat sich Johann Wolfgang von Goethes ellenlanges Epos „Reineke Fuchs“ geschnappt, kräftig gekürzt und aufgepeppt und zur temporeichen Parabel mit Pop-Songs gemacht. Gottvoll witzig kostümiert von Gloria Brillowska versuchen die tollen Typen aus der Tierwelt – Löwe, Kater, Dachs, Bär etc. (u.a. Hanna Scheibe, Myriam Schröder, Niklas Mitteregger) – dem fiesen Fuchs beizukommen. Aber Pia Händler, mit aufgestellten fuchsroten Haarspitzen, weiß, wie man unverfroren einen Machtplan verfolgt und damit durchkommt – Anlehnungen ans Heute: rein zufällig. Einhellige Begeisterung, auch für die Musik (Ohrwurm und Zugabe inklusive).

Wird jemand geboren, wird eine zusammengeknüllte Jacke unterm Hemd hervorgezogen. Stirbt jemand, hängt man die Jacke an eine der seitlich stehenden Schneiderpuppen – so lenkt uns Jochen Schölch am Metropoltheater durch die Personenvielfalt in seiner Adaption von Nino Haratischwillis Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“, einer Familiensaga vor dem Hintergrund der Geschichte Georgiens im 20. Jahrhunderts: zwischen nicht gelebten Sehnsüchten, Krieg, Revolution, Gewalt und Fluchten, aus denen Chancen werden. Oder kurz: zwischen Liebe und Leid. Mit knappen Mitteln präzise Figuren zeichnen, große Emotion und feine Psychologie mit leichter Hand: Schölch bleibt sich treu. Und schafft das eigentlich Unmögliche: die Geschichte des 1.300 Seiten-Romans stimmig für die Bühne umzuformen – mit einem Ensemble, das das wandlungsstark stemmt (u.a. Gerd Lohmeyer, Eli Wasserscheid, Lilly Forgách, Michele Cuciuffo). Der Beifall: ewig. Die Lektüre des Romans sollte man sich trotzdem nicht entgehen lassen.

Autor: Peter Eidenberger