Karl May ist ein Faible von mir, das bis in meine Jugend zurückreicht und so viel bietet: von den Abenteuerromanen des Schriftstellers über die Umsetzung seiner Werke im Film oder auf der Bühne bis zu seiner Biografie. May hat mit seinen Traumwelten um Figuren wie Winnetou, Old Shatterhand und Hadschi Halef Omar einen ganzen Kosmos geschaffen, der auf mich bis heute eine Faszination ausübt und Auslöser war, sich mit der Geschichte der zahlreichen Theaterinszenierungen, die es seit Beginn des 20. Jahrhunderts quer durch den deutschsprachigen Raum gab und gibt, zu befassen. Mich interessierte stets, wie die Theatermacher die Romanvorlagen Karl Mays umsetzten und wie es ihnen gelang, Winnetou zum Bühnen-Star zu machen.
Wie lange lässt Sie das Thema schon nicht mehr los und warum genau?
Ich bin mit Karl-May-Spielen in Elspe und Bad Segeberg groß geworden und habe seit 32 Jahren keinen Karl-May-Sommer in der norddeutschen Prärie von Bad Segeberg verpasst. Der Erfolg der berühmten Festspiele sorgte seit den 1950er-Jahren für die Gründung zahlreicher weiterer derartiger Freilichtspiele; noch heute gibt es mehr als zehn Bühnen, die Karl May regelmäßig aufführen, sofern Corona keinen Strich durch die Rechnung macht. Mit Dasing, Eging am See und Burgrieden ist übrigens der süddeutsche Raum besonders gut vertreten.
Wirklich?
Ich habe die meisten Bühnen besucht, um herauszufinden, wie die von mir sehr geschätzten Karl-May-Bücher wie „Winnetou“, „Der Schatz im Silbersee“ oder „Old Surehand“ auf der Bühne umgesetzt werden. Karl May unter freiem Himmel für alle fünf Sinne, das begeisterte das Publikum schon vor 80 Jahren. Die Zuschauerzahlen der aktuell bestehenden Theaterprojekte zeigen, dass das noch heute so ist. Auch ich finde das sehr reizvoll, ob aus der Perspektive des Karl-May- oder Theater-Interessierten. Auch vor zeitgeschichtlichem Hintergrund hält das Thema einiges bereit, so zählten Winnetou & Co. etwa während der 1930er-Jahre zu Dauerbrennern. Herauszufinden, warum das so war und was die Begeisterung der Menschen in den unterschiedlichen Epochen ausmachte, trieb meinen Autorenkollegen und mich an.
Bei Karl May denkt man an eigene Lese-Erlebnisse mit der Taschenlampe unter der Beckdecke. Und natürlich an Filme, vielleicht sogar noch an Hörspiele im langen Stau vor dem Tauerntunnel. Aber warum haben Sie sich Winnetou & Co auf der Bühne gewählt?
Zum einen, weil das Thema „Karl May auf der Bühne“ zu unserem Steckenpferd gehört und wir uns auf diesem Gebiet nach Jahrzehnte währenden Forschungen gut auskennen. Zum anderen gab es schlicht noch kein umfassendes Buch zum Thema, während die Literatur beispielsweise zu den Karl-May-Filmen bereits breitgefächert ist. Das Phänomen der Theaterinszenierungen zu Karl Mays Werk bietet zudem so viele Anknüpfungspunkte: Winnetou gab es sowohl auf der kleinen Bühne des Stadttheaters in der thüringischen Provinz, im zig tausende Zuschauer fassenden Freilichtstadion einer Metropole wie Berlin oder an noch heute bekannten Bühnen wie dem Thalia-Theater in Hamburg oder dem Deutschen Theater in München.
Kaum zu glauben mittlerweile.
Ja, aber auch zahlreiche bekannte Schauspieler traten schon in Karl-May-Stücken auf: von Will Quadflieg bis Pierre Brice. Kurz: Auch populärwissenschaftlich und heimatgeschichtlich ist unser Thema ergiebig. Das finden wir besonders interessant.
Klar: Die Stoffe sind spannend, die Konflikte groß, die Protagonisten in der Regel aufrecht. Und Abenteuer-Spielen hat vor allem bei Kindern ja immer Hochkonjunktur. Was macht aus Ihrer Sicht eigentlich einen May-Stoff so gut aufführbar?
Karl Mays Storys sind zeitlos, sie bieten alles, was ein Abenteuerstück braucht: Helden und Schurken, Gut gegen Böse, Dramatik ebenso wie leisere Töne sowie Humor, und nicht zuletzt: Das Thema Freundschaft ist ein zentrales Thema, das generationenübergreifend zur Identifikation einlädt. Daher ist Karl-May-Theater auch etwas für jedes Alter, für die ganze Familie. Der Großvater sieht die Helden seiner Kindheit leibhaftig auf der Bühne, während seine Enkel eine neue Welt entdecken. Gemeinsam lässt sich da ganz wunderbar ein- und abtauchen, was übrigens sowohl für das Buch als auch das Theaterstück gilt. Bei der Aufführung der Karl-May-Stoffe auf Freilichtbühnen mit Schauspielern, Stuntmen, Tieren und Pyrotechnik kommt das kollektive Show-Erlebnis hinzu. Man sitzt quasi mitten im Geschehen, und das in freier Natur.
Man denkt natürlich an die Karl-May-Freilichtfestspiele. Aber da war offenbar noch viel mehr. Wie konnten es die Stoffe eigentlich auch auf die Bühnen von bildungsbürgerlichen Musentempeln der Großstädte und zu Schauspielern wie Will Quadflieg schaffen?
Die frühen Textbuchautoren und Regisseure verbanden mit Karl May nicht nur eigene Leseerfahrungen, sondern auch eine künstlerische Aufgabe. Sie verstanden Winnetou & Co. also nicht allein als nettes Theater für Kinder, das man nicht sonderlich ernst nehmen müsse, sondern als Herausforderung.
Kann man sich vorstellen.
Und: Es war für sie eine Chance, ein breites Publikum zu erreichen. Denn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Winnetou an immer mehr Theatern aufgeführt wurde, hatte Karl May den Status eines Popstars. So schlugen die ersten Inszenierungen regelrecht ein und wurden zu Kassenschlagern. Das sprach sich schnell herum, so dass etliche Theater, von Lübeck bis Wien, einen ähnlichen Erfolg erzielen wollten. Den Schauspielerinnen und Schauspielern boten die Regisseure zudem eine willkommene Abwechslung zu klassischen Rollen und oft auch eine Wiederbegegnung mit den Helden der eigenen Jugend.
München hat zumindest früher offenbar auch schon mitgemischt. Mit welchem Insider-Wissen sollte der München- und May-Kenner Ihrer Meinung nach beim nächsten Isar-Grillabend punkten?
Er punktet vielleicht mit dem Wissen, dass in unmittelbarer Nähe mal Winnetou und Old Shatterhand durch die Münchner Prärie ritten: am Isarufer auf den Flaucherwiesen, genauer gesagt am Südende des Tierparks Hellabrunn in der Nähe der Marienklause.
Echt jetzt, aber wann und wie?
Im Sommer 1949 war das, als dort mit großem Aufwand das Freilichtstück „Winnetou und sein weißer Bruder“ aufgeführt wurde. Doch die Karl-May-Bühnengeschichte Münchens reicht noch weiter zurück: Mit der eher als Parodie konzipierten Operette „Fräulein Rothaut“ gab es bereits 1916 am Gärtnerplatztheater die erste bisher bekannte Theaterinszenierung mit Winnetou, und nur drei Jahre später feierte Karl Mays Apachenhäuptling im Deutschen Theater seine Premiere in einer ernstzunehmenden Inszenierung, dort also, wo bald „Der Schuh des Manitu“ als Musical gezeigt werden soll. 1939 sollte es auch am Volkstheater in München ein Winnetou-Stück geben, doch wenige Tage vor der Premiere sagte man das Stück ab: Durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren viele Ensemblemitglieder einberufen worden.
Was genau wurde 1949 eigentlich auf den Flaucherwiesen gespielt und wie muss man sich das vorstellen?
Das Stück „Winnetou und sein weißer Bruder“ war so etwas wie ein Streifzug durch den ersten und dritten Winnetou-Band. Man zeigte somit sowohl die Blutsbrüderschaft Winnetous und Old Shatterhands als auch den Tod des Apachenhäuptlings. Dem Ganzen verpasste der Textbuchautor, Regisseur und Winnetou-Darsteller Werner Holzhey noch einen Prolog, der im Hier und Jetzt angesiedelt war und zwei Münchner Jungen in die Traumwelten ihrer Lieblingslektüre eintauchen ließ. Unter den Laubbäumen hatte man sowohl eine Spielfläche als auch eine Zuschauertribüne aus Holz errichtet, die von einem Verleih in Hannover zur Verfügung gestellt wurde. Bei den Aufführungen musste viel improvisiert werden, denn die Besatzungsmacht hatte den Einsatz von Schusswaffen verboten, weshalb nur Attrappen verwendet werden durften. In der Presse las man dann von „Piff-Paff von Knallfröschen“ und von grauen Wehrmachtssocken eines Statisten mit der Aufschrift „US-Army“ auf den Gummiabsätzen.
Fies!
Das Schauspiel war damals vieles in einem: Freilichtspektakel als Sehnsuchtsprojekt in der Nachkriegszeit, in der die Menschen nach Kultur und Unterhaltung dürsteten, eine Brot-und-Butter-Beschäftigung für Arbeit suchende Schauspieler – und ein Testballon. Der allerdings krachend scheiterte: Die Festspiele mussten vor Ablauf der geplanten Spielzeit abgebrochen werden und endeten in einem finanziellen Fiasko. Der Produzent hatte sich verkalkuliert und offenbar nicht ausreichend berücksichtigt, dass es die Münchner im strömenden Regen nicht in ein Freilichttheater zieht.
Wenn schon, denn schon: Das könnte ja auch nach einer Wiederbelebung schreien. Schon mal darüber nachgedacht, die Pferde wieder aus dem Stall zu holen – auch in München?
Ich bin ja weder Schauspieler noch Regisseur, daher nicht der Richtige für einen solchen Job. Doch für andere ist das ein sehr aktuelles Thema, wenn auch nicht in München, so doch in der Nähe: Ein paar Kilometer die A8 in Richtung Augsburg hinauf finden in Dasing alljährlich die Süddeutschen Karl-May-Festspiele statt, wo schon Horst Janson auftrat, und erst im letzten Jahr starteten im Bayrischen Wald Karl-May-Spiele in der Westernstadt Pullman City in Eging am See.
Letzter Tipp: Zuletzt wurde gelesen wie wild – auch notgedrungen. Welchen Karl-May-Roman empfehlen Sie als Einstiegsdroge? Und welchen Band dürfen auch vermeintliche Kenner und Vielleser nicht übersehen?
Als Einstieg eignen sich Karl Mays klassische Abenteuerstoffe „Der Schatz im Silbersee“, „Unter Geiern“ und der Klassiker „Winnetou I“ ganz wunderbar, aber wärmstens empfehle ich auch die Autobiografie des Schriftstellers „Mein Leben und Streben“, die Eingang gefunden hat in den Band „Ich“ des Karl-May-Verlags. Die Lebensgeschichte Karl Mays, der sich vom Sohn armer Webersleute zum Bestsellerautor hocharbeitete, ist selbst bühnenreif.
Wer richtig tief eintauchen möchte, dem ist dieses Lesevergüngen (mit vielen tollen Bildern und noch mehr Faktenwissen) zu empfehlen: Nicolas Finke und Reinhard Marheinecke: „Karl May auf der Bühne“, Band 1, Karl-May-Verlag Bamberg, Radebeul, www.karl-may.de
Interview: Rupert Sommer