Lesen! Unsere Buchempfehlungen im Oktober

Neue Bücher von Caroline Wahl, Franzobel, Dorothee Elmiger und Jonas Hassen Khemiri

Caroline Wahl – Die Assistentin (Rowohlt)

Sie ist die Überfliegerin der deutschen Literatur: Das verfilmte Debüt „22 Bahnen“ läuft just im Kino, mit „Die Assistentin“ legt die 30-jährige Caroline Wahl den dritten Bestseller in Folge vor. Eine alltägliche Leidensgeschichte über Resilienz und Überleben, die in 45 Kapiteln plus Epilog vom toxischen Arbeitsverhältnis zwischen Charlotte Scharf und ihrem fiesen Chef Ugo Maise erzählt. Die siebenmonatige Odyssee im Münchner Verlagshaus wird für Charlotte mit Überstunden, anzüglichen Bemerkungen, zufälligen Berührungen und Home-Sessions in der Bogenhausener Villa des Verlegers zum Alptraum. Die Grenzen zwischen Privatsphäre und Beruf verschwimmen, es ist ein Auf und Ab, ein Hin und Her zwischen Zuckerbrot und Peitsche. Die Launen und Wutausbrüche des Chefs hinterlassen bei Charlotte Spuren: Augenzucken, Ohrensurren, Schwindel, schweißnasse Nächte bis hin zum Ermüdungsbruch unterhalb des Knies sowie Panikattacken. Bis sie endlich die Reißlinie zieht, kündigt und ihrem Traum als Musikerin nachgeht. Wahl schöpft aus eigenen Erfahrungen als Assistentin des Diogenes-Verlegers Philipp Keel, ein „Kack-Job“, wie sie der „Neue Zürcher Zeitung“ verriet. Dabei geht‘s ihr ums Ganze: Nicht nur um Figuren, sondern um Strukturen und Verhältnisse im Verlagswesen. Um Menschen, die zusehen, wie ein völlig überforderter Verleger einen Verlag ruiniert und laufend Frauen rekrutiert, feuert und rekrutiert. Literatur als Spiegel der Gesellschaft? Mit feinsinniger Sprache, präziser Beobachtungsgabe und tiefgründigen Figuren hält Wahl, die der „Spiegel“ Girlboss-Feministin taufte, uns allen den Spiegel vors Gesicht – und sorgt für reichlich Gesprächsstoff.

Wolfgang Scheidt

Franzobel – Hundert Wörter für Schnee (Zsolnay)

„Was dachten diese Inughuit über die Weißen, die Gefängnisse für Räume errichteten, nicht auf die Jagd gingen, seltsame Kleidung trugen, Nahrung aus Blechbüchsen aßen …“ Nun ja, sich ihren Teil, so scheint es in diesem wahnwitzigen historischen Abenteuerroman, der einen Culture Clash zwischen dem „modernen“ Menschen von 1897 in Form eines Teams um den exzentrischen Forschungsreisenden Robert Peary und den in Einklang mit einer überwältigenden aber auch höchst unwirtlichen Natur verbundenen Inughuit Grönlands detailliert, grausig und ebenso witzig beschreibt. Erstmal Grönland durchqueren und dann am besten gleich weiter zum Nordpol möchte der ehrgeizige Peary seine Mannschaft führen – diverse Anläufe nimmt er, behauptete auch als erster am Pol gewesen zu sein, erreicht hat das Ziel aber ein anderer. Nach seiner ersten Grönlandreise nimmt er sechs Inughuit mit zurück nach New York. Hier werden sie rumgereicht und hergezeigt, hausen im Keller des Naturkundemuseums; vier sterben an Tuberkulose, einer kehrt mit der nächsten Expedition zurück. Der neunjährige Minik bleibt, zeitlebens zerrissen zwischen zwei Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein könnten … Franzobel versteht es wie kaum ein anderer, historische Stoffe in zeitgenössische Literatur zu verwandeln. Oft schlägt er dabei über die Stränge, gerade aber diese Passagen gehören zum Komischsten, was das Buch zu bieten hat.

Rainer Germann

Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen (Hanser)

Von einer Inszenierung des Schreckens, wie sie sich Filmgenie Werner Herzog ausgedacht haben könnte, erzählt Dorothee Elmigers Roman „Die Holländerinnen“. Für sein gleichnamiges Projekt schickt ein ambitionierter „Theatermacher“, selbst bekennender „Herzogianer“, der für die Kunst „ans Äußerste“ geht, eine Schauspieltruppe nach Panama, um einen wahren Vermisstenfall zu „rekonstruieren“: 2014 sind zwei Backpackerinnen aus Leiden auf einer Wanderung im Dschungel verschwunden. Spurlos bis auf einen Rucksack, darin ein Fotoapparat mit mysteriösen Nachtaufnahmen. Laiendarstellerinnen sollen sich in die Rolle der Beiden versetzen. Ein Mädchenchor sorgt für die Sound-Effekte. Mit einer Handkamera wird die Performance begleitet – Reminiszenz an den Horrorklassiker „Blair Witch Project“. Der Wahnsinnstrip in den pechschwarzen Regenwald wird zur Reise ins „Herz der Finsternis“. Eindringlich geschildert von einer Schriftstellerin, die als Protokollantin dient – und Hauptfigur des Romans ebenso wie eine Figur des Erzähler-Kollektivs ist. Sie macht die Hybris des Schreibens zum Thema und lässt doch die Geschichte(n) triumphieren, die vielleicht Gewalt, Angst und Tod, auch die Einbildungskraft bannen können? Keine Frage: Die Schweizer Ausnahmeautorin Elmiger hat für die literarische Sensation dieses Herbsts gesorgt und ist zu Recht für zwei wichtige Preise, den Deutschen und den Bayerischen Buchpreis nominiert. 

Eveline Petraschka

Jonas Hassen Khemiri (Rowohlt)

Dass der Titel an Tschechow erinnert, kann kein Zufall sein. Auch Erzähler Jonas, der mit dem Autor den Vornamen (und vermutlich einige Lebensdetails) teilt, beobachtet drei Schwestern, von denen eine ganz besondere Sogwirkung ausgeht. Er fühlt sich zu ihnen hingezogen, spürt Nähe, aber auch wieder Ablehnung und sieht, wie unterschiedlich sie sind, wie sich an Weggabelungen und nach Weichenstellungen ganz neue Richtungen ergeben. Es geht um Ina, Evelyn und Anastasia Mikkola, drei Schwedinnen, die untereinander Englisch sprechen, die eine resolute, aus Tunesien stammende Mutter haben und einen Vater, der einfach nicht existiert. Und eine Art Fluch soll sie umgeben, der besagt, dass sie jeden verlieren, den sie lieben. Immer wieder weitet sich der Blick, von Stockholm über Tunis bis hin nach New York. Wie Wellen treiben die Lebensläufe dahin – vom wilden Partyleben über Momente der Einsamkeit, entlangschrammend an der großen Geschichte und dann wieder sehr privat. 30 Jahre betrachtet Khemiri, verschiebt stets neu die Konstellationen und Bezüge, springt in den Zeitebenen und schließt doch einen großen Bogen. Und bleibt ganz nah dran, an Menschen, die man liebgewinnt. Es ist ein Kunstwerk, einen Roman zu erschaffen, der ganz altmodisch und sehr zeitgemäß gleichzeitig ist – und bei dem man schnell vergisst, wie lang er eigentlich ist.

Rupert Sommer