Lesen! Unsere Buchempfehlungen im September

Neue Bücher von Yuko Kuhn, Marco Wanda, Rachel Kushner, Rick Zabel und Paul Ruban

Yuko Kuhn – Onigiri (Hanser Berlin)

Wie verknüpft man die losen Fäden der eigenen Herkunft? Wie lebt es sich zwischen zwei Kulturen? Und wie findet man das Glück, wenn die eigene Familie zu verkorkst ist und als Vorbild nicht viel hergibt? »Onigiri«, das Debüt der Münchner Autorin Yuko Kuhn, setzt in feinen Miniaturen aus Erinnerungsfetzen, inneren Monologen, alten Briefen und Alltagsepisoden die ganz besondere Geschichte einer deutsch-japanischen Familie zusammen. Aki begleitet ihre demenzkranke Mutter Keiko nach dem Tod der geliebten Großmutter noch einmal zu ihrer Familie nach Japan. Die Reise eröffnet ihr einen neuen Blick auf die verschlossene Mutter, deren Distanziertheit Aki seit ihrer Kindheit zu überbrücken versucht. Auch die Beziehung zum deutschen Vater, der die Familie früh verließ, bleibt schwierig: Zu ihm und seiner privilegierten Familie findet Aki kaum Zugang, macht sie sie doch mitverantwortlich für die Traurigkeit der Mutter, die trotz allem in Deutschland blieb. Zwischen diesen Polen sucht Aki ihren Platz. Onigiri, die titelgebenden japanischen Reisdreiecke, symbolisieren ihre Suche nach Liebe und Geborgenheit. Die gemeinsame Reise nach Japan, die als riskante Unternehmung beginnt, wird zu einer vorsichtigen Annäherung zwischen Mutter und Tochter. »Ich frage mich, ob sich aus all den Puzzleteilen, die sie entdeckt, zumindest für einen Moment eine Erinnerung zusammensetzt…« – dieser Satz beschreibt nicht nur Keikos Demenz, sondern auch die Fragilität von Erinnerung und Erzählen. Das große Kunststück der Autorin ist es, dass all die Episoden einer versehrten Familie nie schwer werden, ihr Blick immer liebevoll und voll zartem Humor ist. Yuko Kuhn ist mit ihrer unaufgeregten, präzisen und doch poetischen Sprache ein kleines Meisterwerk gelungen. (Yuko Kuhn stellt ihr Debüt im Gespräch Doris Dörrie am 16.9. im Literaturhaus vor.)

Alke Müller-Wendlandt

Marco Wanda – Dass es uns überhaupt gegeben hat (Zsolnay)

Ein Rock’n’Roll-Märchen, das sich Seite für Seite in einen Albtraum verwandelt und doch am Schluss mit sich selbst ins Reine kommt – so könnte man diese Lebensbeichte des österreichischen Beisl-Dandys Marco Wanda in einem Satz beschreiben. Der als Michael Marco Fitzthum 1987 in Wien geborene Sänger seiner nach der Zuhälterin Wanda Kuchwalek benannten Band hält hier eine grausam ehrliche Nabelschau, die den John-Lennon-Fan auf den exzessiven, alkohol- und drogengespickten Spuren von Jim Morrison oder Amy Winehouse wandeln lässt. Er erinnert an die Anfangstage der Band und seine ersten Versuche als Songwriter; schildert eindrucksvoll in der rauschhaften Tradition der Beatliteratur seine Erlebnisse in Kairo während des Arabischen Frühlings, später in Paris und in New York. „In einer gewissen Tradition stehend hat das Poetische in österreichischen Songtexten einen größeren Stellenwert als in Deutschland“, so Wanda. Er rückt damit zwar hauptsächlich von ihm verehrte Kollegen wie Nino Mandl aka Der Nino aus Wien und David Öllerer aka Voodoo Jürgens ins verdiente Licht, überhaupt erfährt der Leser so einiges über die „Neue Österreichische Welle“, stellt aber natürlich die eigene Strahlkraft – trotz aller schnapsgetränkten Selbstzweifel – auch nicht unter den Scheffel der Wiener Subkultur-Boheme. Auch das leicht Narzisstische ist schonungslos ehrlich an dieser Lebensabschnitts-Autobiografie – himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt erzählt Wanda von Erfolg, Rausch und Sucht; säuft, raucht und doped sich fast zu Tode, um am Schluss zu erfahren, dass der Verlust seines Freundes und Keyboarders Christian Hummer vor zwei Jahren auch fast für das Ende des kometenhaften Aufstiegs dieser außergewöhnlichen Bande von Freunden aus Wien gesorgt hätte. Aber noch einmal gut gegangen – der letzte Satz vor einem Heimspiel vor 100.000 Leuten auf dem Donauinselfest lautet: „Es hat noch gar nicht angefangen, da wollte ich bereits, dass es nicht mehr aufhört.“ Absolut lesenswert, nicht nur für Musikmenschen.

Rainer Germann

Rachel Kushner – See der Schöpfung (Rowohlt)

Was wäre, wenn der verträumte Neandertaler überlebt hätte, nicht ‚Bruder‘ Homo sapiens, der in zerstörerischer Gier aus der Erde rausholt, was geht. Wenn die Menschheit die falsche Abzweigung genommen hat, wie steigt sie aus dem „Wagen, der auf die Auslöschung zurast“, wieder aus? Bruno Lacombe, Vordenker der Ökokommune „Le Moulin“, der als Eremit in einer Steinzeithöhle in der Guyenne haust, beschwört seine Anhänger in esoterischen E-Mails, „die Welt zu verlassen“. Nichtsahnend, dass eine abgebrühte amerikanische Spionin ‚mitliest‘. Sadie Smith wurde von unbekannten Mächten engagiert, gegen die Moulinarden zu ermitteln. Sie stehen im Verdacht, Agrarkonzerne zu sabotieren, die in Megabassins Grundwasser abschöpfen. Das attraktive Busenwunder schafft sich Zugang zur Gemeinschaft. Doch bald wird die Verführerin zur Verführten. Mit ihrem aktuellen Roman „See der Schöpfung“ übertrifft US-Starautorin Rachel Kushner sich selbst an Fabulierfreude, anarchischem Witz und raffinierter Erzähltechnik. Was nicht zuletzt am herrlich desillusionierten Blick ihrer Ich-Erzählerin liegt, der die Widersprüche im Leben der Kommunarden entlarvt: Deren Führung („nette Jungs aus netten Pariser Familien“) setzt auf die alte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und rivalisiert miteinander, wer der beste Aktivist ist. Job erledigt, braust Sadie mit ihrem neuen Mercedes davon. Sie allein hat Brunos Botschaft richtig verstanden – und steigt aus. 

Eveline Petraschka

Rick Zabel – On The Road (Kiepenheuer & Witsch)

Als Steppke staunt Rick Zabel, als Vater Erik als punktbester Fahrer bei der Tour de France auf dem Podest steht, mit Marcel Kittel und André Geipel tritt er für den gleichen Rennstall in die Pedale und umrundet als Radprofi elfmal die Welt. Im Memoir „On The Road“ erzählt Zabel junior von seiner Liebe zum Radsport: von Königsetappen, Belgischen Kreiseln und seiner Lieblingstour Paris-Roubaix, der „Hölle des Nordens“. Auch Schattenseiten des Radsports werden thematisiert: Dopingkontrollen, lädierte Hintern oder ein doppelter Bänderriss, mit dem sich Zabel durch die Tour de France quält. Die 21 Etappen des Buchs sind voller Anekdoten und Emotionen, der Rad-Junkie spricht über Spitzengehälter im Rennzirkus, zwei Dopingbeichten seines Vaters Erik – während der Filius „clean“ bleibt – sowie körperlichen und mentalen Druck. Zabels Karriere ist ein Auf und Ab: Mit 13 Jahren geht er ins Internat nach Erfurt, lebt zwischenzeitlich wieder bei den Eltern in Kessebüren, zofft sich mit Vater Erik über Trainingspläne und Siegermentalität, 2017 gehört er zur Weltspitze, um ein Jahr später dem Peloton hinterher zu fahren und 2024 mit 30 Jahren die Profikarriere zu beenden. Als Experte und Bike-Influencer bleibt er dem Radsport treu: für die ARD kommentiert er die Tour de France oder spricht mit Jan Ullrich im Podcast „Ulle und Rick“ über Radsporttrends. Zabels Buch ist eine spannende und mitreißende Hymne auf den Radsport.

Wolfgang Scheidt

Paul Ruban- Der Duft des Wals (Aufbau)

So traurig die Tatsache ist: Vielleicht ist es gut, dass der Hochsommer und damit die Hauptferienzeit jetzt vorbei ist. Als Strandlektüre hätten sich beim Lesen des Romandebüts des aus Kanada stammenden, zweitweise in München lebenden Autors schon manchmal Brechreiz eingestellt – und akute Lachmuskelverspannung. Es ist ein denkbar groteskes Szenario, das Ruban schildert und das zunächst einmal nicht groß hinterfragt wird. In einem Luxus-Ferienanlage in Mexiko wurde über Nacht am Strand ein gigantischer toter Meeressäuger eingeschwemmt, der nun vor sich hin verwest – und bestialisch stinkt. In einer Welt, die mehr Schein als Sein ist und in der auch die Urlauberpaare darauf bemüht sind, die Fassade zu wahren, ignoriert man den Einbruch des Abscheulichen einfach mal so gut es geht. Mehr noch: Der Hotel-Besitzer, der selbst nichts riechen kann, lässt teures Markenparfüm versprühen – zu Ablenkung. Und doch kriselt und bröselt und bröckelt es natürlich, wie man es auch als treuer „Monaco Franze“-Fan ahnt. Vor allem der aberwitzige Plan der Eheleute Judith und Hugo, mittelreiche Gringos aus dem Norden, unter südlicher Sonne ihre kaputte Ehe zu retten, kann natürlich nur scheitern. Paul Ruban schafft es, auf nur 220 ein wahres Panoptikum an Typen, Schicksalen und Geschichten zu entfalten. Atemberaubend gut, ziemlich witzig – und so deftig, dass es stinkt.

Rupert Sommer