Lesen! Unsere Buchempfehlungen im November

Neue Bücher von T.C. Boyle, Ian McEwan, Thorsten Nagelschmidt und Benjamin Myers

T.C. Boyle – No Way Home (Hanser)

„Sie ist Gift. Das weißt du noch nicht, aber du wirst es bald rausfinden.“ Jesse warnt Terry, doch dieser ist Bethany längst verfallen – kein Wunder, ist sie doch durch und durch das American Girl. Boyle beschreibt ihr Aussehen wie ein Centerfold aus den Acht-zigerjahren: eine von Tom Petty besungene, stolze Wüstenblume in Redneckhausen, hier Boulder City genannt, im ländlichen Nevada, zwischen Kakteen und Klapperschlangen – auch zweibeinigen.
Terry ist ein Facharztanwärter aus Los Angeles. Seine Mutter ist verstorben, und er hat ihr Haus geerbt in der Wüstenkleinstadt mit ihren Diners und Bars und Einwohnern, die mithilfe von Drinks & Drugs von einem besseren Leben träumen. Jesse würde gerne Schriftsteller werden, doch auch mithilfe seiner Creative Writing-Lehrerin, mit der er das Bett teilt, kommt die Karriere nicht so recht in Gang. Kein Wunder – er hängt immer noch an diesem Gift namens Bethany, seiner Ex. Doch die träumt von einer Karriere als Ehefrau, nachdem sie den einsamen Terry aufgerissen und sich in seinem Haus einnistet hat. Dass diese toxische Dreiecksbeziehung nicht gut ausgehen kann, darüber besteht kein Zweifel. Dass man das Setting nicht nur aus amerikanischer Literatur und Filmkunst kennt – geschenkt. Dummerweise tappt der (vom Autor dieser Zeilen durchaus geschätzte) Bestsellerautor Boyle praktisch in alle Klischeenäpfchen, die er sich selbst hinstellt. Im Gegensatz zu Kollegen wie Larry Brown oder Willy Vlautin gelingt es ihm diesmal nicht, seinen vom Leben gebeutelten Charakteren Tiefgang und Authentizität zu verleihen. Sein White-Trash-Milieu wirkt ein bisschen arg akademisch ausgeleuchtet, und sehr viel mehr als durchsoffene, schweißgetränkte Nächte hat er an Patina nicht zu bieten. Das ist schade – denn gerade das aktuelle Amerika hätte einen oft gesellschaftskritischen Chronisten wie Boyle nötiger denn je. Authentisch wirkt allenfalls Terry, der hypochondrische Arzt, der bei Begegnungen sofort auf etwaige Krankheiten rückschließt. Insgesamt ein eher schwächerer Roman von T. C. Boyle – höchstens eine unterhaltsame ménage à trois, die zumindest zwei von dreien nicht ohne heftige Blessuren überstehen.

Lesung mit T.C. Boyle und Ben Becker am 24.11. in der Isarphilharmonie

Rainer Germann

Ian McEwan – Was wir wissen können (Diogenes)

Mit der Physikersatire „Solar“ (2010) hat Meistererzähler Ian McEwan den Kli- mawandel literaturfähig ge- macht. Seine ‚Diagnose‘: Eigennutz und Gier, der Human Factor ist verantwortlich dafür, wenn die Erde nicht zu retten ist. Im neuen Roman „Was wir wissen können“, einem lässigen Mix aus Dystopie und Love & Crime-Story, ist die Menschheit schon einen Schritt wei- ter, – Hauptfigur diesmal ein Geistes- wissenschaftler, letzter bekennender Retro, der sich für das „verlorene Paradies“ begeistert. Hätten die Vorfahren nicht mehr machen können, als auf hemmungsloses Wachstum setzen und Kriege führen? Wir schreiben das Jahr 2119: Extremwetter, Pandemien, ein russischer Atomschlag und „die Überflutung“ haben zum Untergang der uns bekannten Welt geführt. Europa ist zur Insellandschaft geworden, Freiheit nur mehr ein ferner Traum. Da begibt sich der Anglistikprofessor Thomas Metcalfe auf die Suche nach einem verschollenen Gedicht. Der berühmte Lyriker Francis Blundy hat es 2014 seiner großen Liebe Vivien gewidmet. So bewegend schön soll die Hymne auf die bedrohte Natur sein, dass sie selbst die mächtige Ölindustrie zum Zittern bringt. Aber kann Literatur die Welt retten? Und wie steht es um das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit? Antworten geben „Die Bekenntnisse von Vivien Blundy“, der autofiktionale Roman im Roman, den Metcalfe schließlich herausgeben – und damit ein schier unfassbares Verbrechen enthüllen kann.

Eveline Petraschka

Thorsten Nagelschmidt – Nur für Mitglieder (Hanser)

„Das homosoziale Abgehänge dieser infantilen Männer, die tumben Begrüßungs- rituale mit dem darauffolgenden Rückengeklopfe … die rohe Gewalt, ihr primitiver Rassismus und ihre widerwärtige Misogynie, das endlose Gefresse und Geschlürfe und Geschnaufe und Geschmatze …“ – na, um was für eine Serie handelt es sich hier wohl? Genau, um die größte aller Zeiten: „Die Sopranos“. Scheint gar nicht so gut angekommen zu sein beim Musiker Nagel (Muff Potter) und Autor Nagelschmidt, der mit „Arbeit“ und „Soledad“ gute Bücher vorgelegt hat. Nun begibt er sich auf ein Experiment: Um Weihnachten – und der damit ein- hergehenden Depression – zu entfliehen, checkt er samt DVD-Player zur staaden Zeit in ein All-Inclusive-Hotel auf Gran Canaria ein und binged alle sieben Staffeln „Sopranos“ am Stück – elf Tage, acht Stunden täglich. Das klingt erst einmal schräg und wird bald zur beeindruckenden autobiografischen Reise, bei der Nagel- schmidt die Lesenden in schonungsloser Offenheit an seinem Seelenleben teilhaben lässt. Bald zeigt sich, dass depressive Phasen ihn nicht nur an Weihnachten heim- suchen, sondern in den letzten Jahren verstärkt auftraten. Diese Erzählung lässt sich auch als selbsttherapeutisch lesen – dass es ihm gelingt, dem ernsten Thema auch humorvolle Passagen aus der All-Inclusive-Welt entgegenzusetzen, kann man als Erzählkunst bezeichnen und es erinnert gar an David Foster Wallaces Kreuzfahrtreportage „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“.

Rainer Germann

Benjamin Myers – Strandgut (Dumont)
Es ist ein Roman, bei dem mit jedem neuen Satz ein cooler Soundtrack auf dem Plattenteller kreist. Oder bei dem man die Nordsee-Wellen anbranden – oder die Kackmöwen vor dem Fenster schreien – hört. Earlon „Bucky“ Bronco hatte seine Sinne über Jahre hinweg so sehr abgedimmt (mit Alkohol und viel zu vielen dubiosen Pillen), dass lange fast nichts mehr zu ihm durchdrang. Und dann steht er plötzlich am Flughafen, wenig später landet er in diesem verregneten, kleinen England und nur noch mal wenig später im ab- gerockten Seebad Scarborough. Was dann doch so gar nicht dazu passt, schon gar nicht im einstigen Grand Hotel mit den verkotzten Teppichen und den kaputten Aufzügen: Bucky wird von den Menschen angeschaut, ja bewundert – wie eine Erscheinung. Kann es wirklich sein? Der Messias des Groove ist zurück. Während daheim in den USA sich niemand mehr an die kurze musikalische Blütezeit des Sän- gers erinnert, verehrt man ihn in der Northern-Soul-Fangemeinde wie einen Tanzgott. Und genau deswegen hat sich Bucky auch zur ersten Reise seines Lebens überreden lassen, die dann direkt über den Atlantik führt. Es steht – nach all den Jahren – noch ein letztes Konzert an. Das Herzklopfen ist kaum zu ertragen: Wird es ein Auftritt – ein Abgang – in Würde wer- den? Benjamin Myers, Musik- und Menschenliebhaber sowie Bestseller- Autor („Offene See“), hat ein weites Herz für seine Helden.

Rupert Sommer