Aktuelle Stücke in Volkstheater, Marstall, Residenztheater und den Kammerspielen
„Frankenstein oder: Schmutzige Schöpfung“ im Volkstheater
Wissenschaftler erschafft Monster und verliert die Kontrolle über seine Schöpfung: Der Horrorklassiker „Frankenstein“ geht immer. Die junge Mary Shelley hat mit ihrem Romandebüt 1818 gleich ein neues Genre erfunden, am Volkstheater denkt Regisseur Philipp Arnold die romantisch-düstere Story klug neu, mit einem Monster von heute: der KI.
In „Frankenstein oder: Schmutzige Schöpfung“ (nach Shelley und Texten von Thomas Melle) gibt es die Titelfigur zweimal: Da ist Viktor (Julian Gutmann), der langweilt sich erst mal vor dem Eisernen Vorhang, die KI – heißt sinnigerweise Shelley – soll für Abwechslung sorgen, mit einer Geschichte. In die Viktor dann selbst hineinverfrachtet wird: auf der nun offenen Bühne, eine Szenerie mit ein paar symbolischen Elementen, Licht, Schnee und Musik sorgen für diffuse Stimmung. Hier bastelt Frankenstein, der Wissenschaftler (Cedric Stern), an seiner Kreatur, dreht am ganz großen Rad: Das Leben neu bestimmen.
Diese Kreatur, wenn sie erwacht, hat wenig Monströses an sich: Nina Noé Stehlin gibt sie als zartes Wesen, stochert sich, sprachlich noch unsicher, gestisch eigenwillig, in die Welt. Mordend böse wird sie dann doch, weil ihr Schöpfer ihr versagt, wonach sie sich sehnt: einen Partner. Doch das ist noch nicht das Ende: die KI, bis dahin nur als Stimme präsent, wird personifizierte Intelligenz: Jawad Rajpoot, stiere Augen, dicke Adern auf kahlem Schädel, die Wirbelsäule ausgelagert, erscheint durch einen wabbernden Lichttunnel, als moralisch aufgeladene, finale Warnung: „Was einmal Mensch war, wird nicht mehr sein“.
Der Jubel nach 100 Minuten: gewaltig.
„Das gelobte Land“ im Marstall
Die Ängste einer illegalen Einwanderin, ein Leben, das sich jeden Tag ändern kann, weil man entdeckt wird: „Das Gelobte Land“ der ugandischen Autorin Asiimwe Deborah Kawe, jetzt im Rahmen des Festivals WELT/BÜHNE im Marstall uraufgeführt, gibt den Migrationsdebatten unserer Zeit das Gesicht eines konkreten Schicksals. Erdacht unter dem Eindruck von Corona-Pandemie und erster Regierung Trump, geschrieben ab 2022 als Gastautorin am Residenztheater, wirkt die Geschichte – nach einem Seminar bleibt eine schwarze Frau illegal in den USA und schlägt sich als Krankenpflegerin durch – nun wie eine tagesaktuelle Theaterreaktion zu den Auswüchsen der jüngsten US-Politik. Regisseur Jakab Tarnóczi macht daraus bei seiner ersten Münchner Arbeit mit feinem Blick für Nuancen ein bewegendes, bedrückendes Ereignis.
Dass dieses Land nicht gelobt sein kann, zeigt schon die Bühne: zwei schmucklose Hostelräume, durch große Scheiben einsehbar, eine Rezeption: unpersönliche, abweisende Übergangsorte. Aus einem Online-Interview mit Achen, die in Abschiebehaft sitzt, zeigt sich nach und nach in Rückblicken ihre amerikanische Odyssee durch entscheidende Begegnungen: mit ihrer Freundin Amaka (Naffie Janha), mit Chris, ihrem späteren Ehemann (spießig, aber empathisch: Niklas Mitteregger). Und mit Kat. Beim Seminar damals hatte sie sich in Achen verschaut, Jahre später bringt sie der Zufall als Nachbarinnen wieder zusammen. Kat, weiße Republikanerin und Evangelikale, Liliane Amuat als kontrollierte Upper-Class-Frau, wird sie verraten. Der Versuch, eine Scheinnormalität zu leben, neue Zugehörigkeit zu finden, was Isabell Antonia Höckels Achen in den knapp zwei Stunden so glaubhaft verfolgt, ist gescheitert. Langer Beifall.
„Sauhund“ in den Kammerspielen
München, die 1980er Jahre. Ein Junge kommt aus der Provinz in die Stadt, dem Sehnsuchtsort, um endlich so sein und leben zu dürfen, wie er ist: schwul. In einer damals weltbekannten Szene, die auch ein Freddie Mercury ausgiebig genoss, und in der das Wort Pandemie noch eine andere Konnotation hatte: das aufkommende AIDS-Virus. Der junge Lion Christ ist kein Zeitzeuge, sein erster Roman „Sauhund“ (von 2023) ist gut recherchierte Hommage und notwendige Erinnerung, erst recht in einer Zeit der neu-rechten Kämpfe gegen alles, was anders, queer und woke ist.
Die knapp 400 Seiten Roman verdichten sich im Schauspielhaus der Kammerspiele zu einer 90-minütigen intensiven Studie. Chronologisch folgen wir Floris Leben, fokussiert auf entscheidende Sequenzen: erst Zivi, dann Arbeit im Einzelhandel, verborgene Zärtlichkeiten mit dem Dorf-Schreiner, die Nachbarin animiert ihn, mal ein Kleid anzuziehen. Und schließlich München mit diversen Erfahrungen: WG, Sex, Abstürze, Bahnhofsmission, AIDS.
Vor der segmentierten Wand mit Schwarz-Weiß-Fotos aus der Szene, mit Video-Sequenzen, dazu Audio-Statements (O-Töne aus der CSU, die einen frieren lassen, Homosexualität ist „contra naturam“ und so was), lässt Regisseur Florian Fischer diese Zeit zwischen Witz und Feingefühl, Lust und Leiden, Befreiung und Bedrohung emotional wieder auferstehen. Und mit drei grandiosen Darstellern wird der Abend zur umjubelten Show: Annette Paulmann und Edmund Telgenkämper lassen die zig Figuren, die sie verkörpern, mit präzisen Gesten (und Kostümwechseln) leuchten, Elias Krischke als Flori: zutiefst berührend in seiner Suche, seiner Neugier, seiner Kraft, mit der er sein Gefühlsleben annimmt, bis in alle Höhen und Tiefen hinein.
„Gschichtn vom Brandner Kaspar“ im Residenztheater

„Do waar i wieda amoi“ prangt in Riesenlettern an der Fassade des Residenztheaters. Der Boandlkramer wird mit diesen Worten den zweistündigen Abend dieser Uraufführung eröffnen, sie gelten aber auch für den Brandner Kaspar, den „o’drahten“ (heißt: verschlagen, listig) Eigensinnigen, der dem Tod mit Hilfe von Kerschgeist und falschem Karteln ein paar Jahre abluchst. 1975 hat Kurt Wilhelm hier (nach Franz von Kobells Kurzgeschichte) einen Theaterhit gelandet, mit über 1.000 Aufführungen. Der „Brandner“ am Volkstheater hat gerade sein 20. Jahr gefeiert, auch längst legendär. Es ist also nicht ohne Risiko, wenn der Brandner in München noch einmal und wieder da ist.
Nicht aber, wenn man einen Profi wie Franz Xaver Kroetz dazu bringt, endlich mal wieder ein Stück zu schreiben. Die „Gschichtn vom Brandner Kaspar“ ist ein „Volks-Stück aus der analogen Welt, die Zeit ist früher“, wie der Autor selbst schreibt. Doch zeitlich so weit weg sind die Figuren gar nicht. Florian von Manteuffels exaltierter Boandlkramer hat was von John Travolta in „Pulp Fiction“, die Kleidung vom Brandner und seiner Enkelin kriegt man im Outdoor-Shop, die Live-Musik mit Kontrabass, Akkordeon und Gitarre: groovender Alpen-Jazz-Mix. Kroetz hat das Personal massiv reduziert, der alte Brandner lebt mit seiner Enkelin zusammen (deren Mutter auch mal kurz auftaucht), gesprochen wird „ein verglühtes oberbayrisch“ (Kroetz), nur der päpstliche Petrus (Michael Goldberg) ist ein Preiß. Philipp Stölzl (Regie) führt überlegt durch Witz und Tragik dieses Bilderbogens, Szene auf Szene geben die zwei Flügeltüren eines Riesenvotivkasterls den Blick frei: karge Stube oder rosa wolkiger Himmel, Prospekte zaubern herrliche Hintergründe, Alpenromantik, aber auch Weltraum (Ufos und Aliens inklusive), wenn Brandner und Boandl auf einem Bett Richtung Paradies steuern.
Günther Maria Halmer ist ein authentischer alter Brandner, das Gehen macht schon Mühe, aber auf den Gipfel muss er immer noch. Eigen ist er, auch hart, die verlorene Tochter nennt er „Flitscherl“, aber auch nachdenklich, und den Tod der Enkelin (Elisabeth Nittka) beweint er bitterlich. Stehende Ovationen, und ein glücklicher Autor winkt aus dem Publikum.