Neue Alben von Alanis Morissette, Mt. Joy, Hank Williams Jr., Alice Merton, Ry X, David Sylvian...

Alanis Morissettes kleine Meditationsmusik, Mt. Joy erinnern an Little Joy und Hank Williams Jr. auf den Spuren des Mississippi-Delta-Blues
Alanis Morissette - The Storm Before The Calm
War jetzt so nicht zu erwarten. Oder etwa doch? Dazu Morissette: „Das Album zu machen, ermöglichte es mir, verbunden und verantwortungsbewusst zu bleiben, als ich in der Corona-Zeit das Gefühl hatte, ich würde mich einfach auflösen und verschwinden.“ Wem es anders ging, der solle sich bitte melden. Aber auch ohne Corona funktioniert so ein Meditationsalbum derzeit ganz hervorragend. Zumindest für all jene, die einen gesunden und gepflegten Eskapismus schätzen (und bestenfalls auch noch praktizieren) um zwischen Kriegen, anderen Seuchen, Klimakatastrophe, grassierender Dummheit, Neoliberalismus und enthemmtem Neokapitalismus, Rassismus, Antisemitismus, sozialer Verrohung und Ungleichheit, Individualismus, Isolation, Social Media, dem verachtungswürdigen Umgang mit Tieren, ARD-Brennpunkten und ZDF-Specials und der Entdemokratisierung unserer Gesellschaft aufgrund versagender Politik - hab ich was vergessen? - mal kurz zu verschwinden. Ausbüxen, den Unbill der menschgemachten Scheißwelt einfach hinter sich lassen, fliehen, sich verlieren im Geklöppel und Synthie-Gewaber von Alanis Morissette und ihrem musikalischen Partner Dave Harrington (Darkside). Meditation, das ist kein Geheimnis hilft. Oder besser: kann helfen. Dabei sich selbst zu finden, sammeln, heilen. Musikalische Hilfe zur Selbsthilfe, Yoga für die Ohren, Scoresound für Therapie, Massage, Selbstfindung und (why not?) -befriedigung. Dazu nochmal Morissette: „Das Meditieren lässt mein Inneres zur Ruhe kommen - bis zu dem Punkt, an dem ich Zugang zu Ideen, Visionen und Inspirationen habe und ich mein eigenes Selbst hören kann. Musik ist für mich in gewisser Weise wie ein Portal, eine Einladung in einen Seins-Zustand, in dem ich mich normalerweise nicht befinde.“ Sprach‘s und verschwand im esoterischen Klangnebel ihres eigenen Ichs. Mental-Health-Musik für Gereizte, Genervte und andere Angekotzte.
Mt. Joy - Orange Blood
Schon zu Beginn erfreut man sich gleich am Titelsong, der einem, leicht vom Latin angehaucht, sofort die blutrote, am Horizont versinkende, kalifornische Sonne vor das geistige Auge und Ohr zerrt. Und man denkt unweigerlich an kühles, perlendes Bier, Zigarettenrauch, einatmen, ausatmen, schwelgen, genießen… und an: Little Joy, jene Alternative-Melow-Pop-Supergroup von und mit Rodrigo Amarante, Strokes-Schlagzeuger Fabrizio Moretti und Adam Green-Muse Binki Shapiro. Auch die gesamte Produktion erinnert stark an das Trio, das ja bisher leider nur ihr phänomenales 2008er Debüt veröffentlichte. Gut also, dass Mt. Joy - obwohl nicht aus Kalifornien sondern Philadelphia, wobei - was’n Wunder - die Aufnahmen natürlich in der kalifornischen Wüste gemacht wurden - sich nicht nur namentlich anlehnen, sondern gar gesamtmusikalisch das Erbe antreten. Psychedelisch verfremdete Gitarren gibt es genauso wie entspannt laid back getrommelte Rhythmen. Die Songs wissen - ganz wie bei Little Joy - auf Anhieb zu gefallen und selbst das Klangbild, klingt so charmant mono-mopselig wie bei den kalifornischen Geistesverwandten, dass es gar aus den 60ern stammen könnte. Die Akustikgitarren-Lagerfeuer-Miniatur „Don’t It Feel Good“ ist so bezaubernd, dass es einem gleich ganz komisch wird in Hals und Bauch. „Bang“ ist brutal emotional gesungen, „Evergreen“ zitiert in gewisser Weise Vampire Weekend und das karibisch anmutende „Roly Poly“ lädt zum Easy-Afterwork-Listening, während der „Johnson Song“ auch von Pavement, Bright Eyes oder den frühen Flaming Lips inspiriert sein könnte. Bei „Ruins“ meint man fast Jesper Munk singen zu hören und der angedeutete Country-Swing von „Bathroom Light“ entlässt einen entspannt in die kühle Nacht. All Killer, no Filler“ Stark!
Short Cuts:
Hank Williams jr. - Rich White Honky Blues
72 ist der Junior nun auch schon. Der Junior von Hank Williams Senior versteht sich, dem wohl berühmtesten jemals lebende Countrymusiker dieses Planeten. Der einzige Spross vom alten Hank allerdings versteht sich, etwas besser als der Vater, ganz hervorragend darauf, den tiefschwarzen, rootsigen Mississippi-Delta-Blues’n’Boogie authentisch zu interpretieren. Zu hören sind auf dem von Dan Auerbach aufgenommenen Album Songs von Leuten wie Robert Johnson, Lightnin‘ Hopkins, R.L. Burnside, Muddy Waters, Big Joe Turner u.a. Alles in allem: Erdig.
Alice Merton - S.I.D.E.S.
Alice Merton ist eine von den (etwas zu) Braven und den (etwas zu) Guten des oftmals leider auch etwas zu seichten und zu biederen Mainstream-Radio-Pop. Überdeutlich wird das auf diesem von Leuten wie Koz (Dua Lipa), Jonny Coffer (Beyoncé, Ellie Goulding), Jennifer Decilveo (Anne-Marie, Andra Day), Tobias Kuhn (The Kooks, Milky Chance, Die Toten Hosen) und Matty Green (Dua Lipa, Royal Blood) co-geschriebenem und produziertem neuen Album. Gut und brav gemacht, nicht mehr, nicht weniger.
Σtella - Up And Away
Als erstes denkt man wie automatisch: Aus im Halbfinale des ESC für Griechenland. Der Titelsong auf Σtella Album hätte wohl keine Chance. Obwohl, vielleicht grad? Egal, müßig. Aber müssen all die Gedankenspielchen gleich etwas Schlechtes bedeuten? Eigentlich nicht, aber die quietschige Synthie-Dauerpenetration ist dann doch so penetrant, dass man sich erstmal Sorgen macht um die A&R-Abteilung des sonst so stilsicheren Sub Pop-Labels. Es folgt leicht schwermütiger Pop, verziert mit haufenweise griechisch-orientalischen Folk-Elemente. „Charmed“ hat, nun ja, Charme, „Black And White“, nun ja, sowas Ähnliches wie Soul und „Titanic“ atmet lässiges, frankophiles 60s-Easy-Pop-Understatement. Der Rest allerdings ist mir schleierhaft.
David Sylvian - Sleepwalkers
Bei Herbert Grönemeyers Label haben sie was über, für Sperriges, Kunstvolles und anderweitig Exzentrisches aus dem breitgefächerten Popspektrum. Der ehemalige Vorsteher der legendären britischen Synthie-Pop-Punks Japan nun entspricht im wahrsten Sinne der Worte dem klassischen Beuteschema der Grönländer. Auf „Sleepwalkers“ sind nun neu sequenzierte und abgemischte Kooperationen und Nebenprojekten mit Größen der Pop- und Improvisationsmusik (Ryuichi Nakamoto, Christian Fennes, Arne Hendrikes, Das Fujikura), der elektronischen und zeitgenössischen klassischen Musik. Die besten dieser erstmals 2010 veröffentlichten Aufnahmen kann man hier runderneuert Nachhören… Nur wer will, versteht sich!
Ry X - Blood Moon
Auch bei Ry X geht es im weitesten Sinn um Einkehr, Besinnung, mithin also Meditation. Darüber, wie die Dynamik der Liebe und Partnerschaft im Allgemeinen so funktioniert. Wobei intime Reflexionen über Spiritualität, das Göttlich-Feminine und die Erkundung des Selbst auch nicht zu kurz kommen. Schwummrige, ätherisch-duftende - auch mal an Bon Iver - erinnernde Pop-Exkursionen für die Blue Hour. Zu Gast beim wirklich schönen „Colorblind“ kein geringerer als der isländische Klangkünstler Ólafur Arnalds.
Autor: Gerald Huber