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DJ-Philosoph Reinhard Jellen: „Bis mich die Pampelmuse küsst“

Interview mit DJ-Philosoph Reinhard Jellen
Kämpft gegen die Infantilisierung des Diskurses – mit Humor: Reinhard Jellen © Privat

Wortmächtiger Philosoph und Experte für Northern Soul: Reinhard Jellen bringt brisante München-Themen zum Tanzen. Was man von ihm lernen kann

Herr Jellen, die Zeiten sind angespannt, erfordern Widerstandskraft. Wie gut kann man sich Ihrer Meinung nach mit kritischem Denken, philosophischer Wachheit und Humor aktuell wappnen? 
Philosophische Grundkenntnisse schaden nicht, weil man ohne dergleichen falsch kritisiert: Kritik bedeutet nämlich nicht, den Forschungsgegenstand künstlich klein zu machen und dann mit der moralischen Fliegenpatsche draufzuhauen. Sondern im Gegenteil: Man muss das zu Kritisierende voll zur Kenntnis nehmen, um daraus eigene Gegenpositionen zu entwickeln.

Schon klar.
Kritik bedeutet auch, die adäquate Darstellung des Gegenstands. So gesehen nützt es meiner Meinung nach nichts, politisch missliebige Positionen dadurch zu diskreditieren, indem man darauf hinweist, dass dies und jenes beispielsweise auch vom politischen Gegner behauptet wird. Auf phänomenologischer Ebene kann ich nämlich mit diesem durchaus einen Sachverhalt teilen, ohne aber daraus analytisch dieselben Schlüsse zu ziehen, worauf es ja ankommt. Vereinfacht ausgedrückt heißt das, wenn ein Rechter behauptet, dass die Erde eine Kugel ist, folgt daraus nicht automatisch, dass sie eine Scheibe ist. Dazu müsste man eigentlich nicht jahrzehntelang Erkenntnistheorie studiert haben, aber es ist eine Position, die in der gegenwärtig massiven Moralisierung und Infantilisierung des politischen Diskurses total untergeht. Und hier kommt dann eventuell so etwas wie der Humor ins Spiel. Um hierbei nämlich nicht verrückt zu werden, ist die Erkenntnis, dass man sich selber schon der größte Depp ist, unbedingt von Nöten. Sonst wird es schwierig.

Ihre Essay-Sammlung „Ironie und Warenfetischismus“ schlägt rasante Bögen. Wie sehr muss ein Thema für Sie brennen, so dass Sie gar nicht anders können, als in die Tasten zu hauen?
Ich schreibe immer an verschiedenen Themen gleichzeitig und warte, wenn möglich, mit dem Schreiben, bis mich die Pampelmuse küsst. Die Hauptschwierigkeit am Schreiben besteht für mich darin, in eine Schreibstimmung versetzt zu werden. Ist die aber vorhanden, laufen die Dinge eigentlich wie von selbst. Dann muss ich nur schnell genug sein, um zu notieren, was mein Hirn mir eingibt. Dabei liebe ich es, Dinge loben zu können, nur gibt es gegenwärtig so viele Sachen, die es zu kritisieren gilt.

Gerade wenn es um die konsumfetischistische Seite des Alltagskapitalismus geht, hört man immer wieder Ihren München-Bezug raus. Ist die oft so schnell überdrehende Stadt ein guter oder ein schlechter Ort für den meinungsfrohen Marxisten in Ihnen?
Unbedingt ein guter! München ist ja nicht nur Glasglocken-City, die sozial ausgewogen tut, sondern auch die florierende Gentrifizierungs-Hauptstadt, die zunehmend von auf Konsumstelzen umherstolzierenden Ich-Zwergen bevölkert wird. Es bietet sich also Anschauungsmaterial in Hülle und Fülle, speziell auch zu Wiesn-Zeiten, schließlich ist München amüsanterweise die Stätte des größten Bier-Hypes überhaupt, insofern der dort fabrikmäßig hergestellte, süße Gerstensaft, eine pikante Mischung aus den Geschmacksrichtungen „Pisse zuckerkranker Rentner“ und „Alter Teppich, auf den Bier geschüttet wurde“, in olympischen Maße zu Unrecht weltberühmt ist. Dies wiederum lässt sich schlüssig aus der Existenz des Oktoberfestes erklären, welches über die Jahre stets bizarrer und skurriler geworden ist.

Wie bitte?
Wenn irgendwo auf diesem Planeten noch jemand meint, dass es Hieronymus Bosch in seinen Bildern tüchtig übertrieben hätte, dem rate ich dringend, ein Bierzelt des hiesigen Sauf-, Kotz- und Brunz-Festes zu frequentieren, wo auf Vollrausch getrimmte, billigst hergestellte Industrieplörre ausgeschenkt und von lebenden Toten in Trachtenkleidung aus Maßkrügen konsumiert wird, die das für die höchste Form des Spaßes halten. Alles in allem aber ist mir die Popularität des Münchner Bieres, wobei ich das „Giesinger“ ausdrücklich miteinschließen möchte, trotzdem wirklich ein Rätsel. Dabei liegt der Bierhimmel quasi um die Ecke, der befindet sich nämlich in Franken. Im Grunde habe ich aber gar nichts gegen den Konsum, der Witz ist nur, dass dieser, so wie er hier praktiziert wird, das Gegenteil von würdevoll und geistreich macht. Er ist ziemlich genau das Gegenteil von Reichtum, so wie ich ihn mir vorstelle.

Was beruhigt Sie dann doch rasch wieder, wenn Sie sich über irre Münchner aufregen müssen?
Die Schriften von Peter Hacks, Aristophanes, Menander, Plautus und Terenz, sowie Schmuseknutsch. Auch für „A Midsummer Nights Dream“ muss immer Zeit sein. Außerdem plansche ich gern am Riemer See.

In vielen Uni-Seminaren stellt man sich geschulte kritische Soziologen gelegentlich als freudlose Zeitgenossen vor. Wie nachhaltig achten Sie darauf, dass bei Ihnen die Lebensfreude nicht zu kurz kommt?
Da versuche ich schon sehr darauf zu achten! Die Weltlage wird fataler und der Weißwein immer besser, so möchte ich meine paradoxe Lebenssituation zusammenfassen. Seit der Corona-Epidemie meide ich auch nach Möglichkeit die von den Medien vorgekaute Weichhirn-Sülze und habe stattdessen begonnen, italienisch zu kochen. Eine weise Entscheidung!

Schöne Themen, die Sie anreißen – und mit denen man schnell neugierig aufs Buch machen kann. Kurz angerissen: Was muss man sich um Himmels willen unter der „Linkem Sex“ vorstellen?
Nun, ich meine, dass jeder einvernehmliche Sex, bei dem man ja nur zum Subjekt werden kann, indem man sich gleichzeitig zum Objekt macht und wo eine vergnügliche Art von Reziprozität und Demokratie der Geschlechtsorgane herrscht, mit dem damit verbundenen ekstatischen Wohlbefinden, eine ganz gute Einübung auf die klassenlose Gesellschaft darstellt. In diesem Sinne ist eigentlich jeder gelungene Sex links. Was ich aber in meinem Buch meine und ironisiere, ist die im Zuge der Postmoderne sich ereignende Hinwendung der Linken zu S/M-Praktiken, Homo-Sex und Sexspielzeug, wogegen ich selbstverständlich gar nichts einzuwenden habe, nur finde ich, dass bereits beim normalen Blümlein-auf-der-Wiese-pflücken-Heten-Sex ein emanzipativer Kern vorhanden ist, so dass es diese Fokussierung gar nicht braucht. – Anderseits schadet es vermutlich nicht, bei der Lektüre von Stefan Kornelius-Kommentaren, dem Gucken von Marietta Slomka und dem Denken an Josef Joffe von der lieben Süßen mit einem Riesen-Dildo von hinten tüchtig rangenommen zu werden.

Pfui, pfui. Und nun die letzte Frage: Bei allem tiefen Denken und Schreiben: Wie viel Zeit bleibt Ihnen eigentlich noch für Ihre Leidenschaft, den Northern Soul – und wann und wie kann man sich mal wieder mitreißen lassen?
Ich sehe Northern Soul als eine Kunstform und könnte ohne diese gar nicht leben. Warum? Weil uns über die Kunst erlaubt wird, eine Haltung zu dem alltäglichen Irrsinn einzunehmen, welche diesen zumindest zeitweise transzendiert. Die Kunst hält den Menschen ja nicht nur einen Spiegel vor die Nase, sondern zeigt ihnen auch, was sie wollten, was sie tatsächlich könnten, wenn sie nur wüssten. Dabei hört die Northern Soul-Szene zur Zeit auch mal aktuellen Gospel, der sich mittlerweile auch gar nicht mehr so euphorisch ausnimmt, wie er noch nie war und wie sich beispielsweise bei den Gabriels heraushören lässt: „Last few years that I have seen/ Walking dead all around me/ Silent fears, neatly folded dreams/ Catacombs, Black Sea surrounding/ Catacombs, Black Sea surrounding.“ Zu hören gibt es das, neben Northern- bzw. Modern Soul, Motown und Funk, am 17. September in der Glockenbachwerkstatt.

Interview: Rupert Sommer

Das Buch von Reinhard Jellen „Ironie und Warenfetischismus. Schriften zu Philosophie, Kultur, Sex, Drogen und Northern Soul“ ist im Mangroven Verlag erschienen. Im Optimal Schallplattenladen ist es vorrätig. Alle Infos: www.mangroven-verlag.de/reinhard-jellen/