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Unsere Buchtipps für Februar

Historisches von Hans-Christian Riechers und Honorée Fanonne Jeffers, inspirierendes von Patrick Aryee und Arno Geiger
Historisches von Hans-Christian Riechers und Honorée Fanonne Jeffers, inspirierendes von Patrick Aryee und Arno Geiger © Verlage

Historisches von Hans-Christian Riechers und Honorée Fanonne Jeffers, inspirierendes von Patrick Aryee und Arno Geiger

Hans-Christian Riechers - Europas letzte Festungen. Reise nach Ceuta und Melilla (Wagenbach)

Gegenüber von Gibraltar müssen sie wohl liegen, die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Kennt man nur aus den News: Illegale Migration. Grenzzäune. Polizei. Außenposten. Hans Christian Riechers erschließt die faszinierende Geschichte dieser Städte an der nordafrikanischen Küste. Waren einst wichtige Häfen für den Handel zwischen den Kontinenten. Schon zu Zeiten der Phönizier. Römer, Genuesen, al-Andalus … Im August 1415 eroberten die Portugiesen das muslimische Sebta, im Namen Gottes und des Profits: Getreide, Elfenbein, Gold, Sklaven, in Europa fehlte es schon damals dramatisch an Arbeitskräften. Es war der Beginn der Kolonialherrschaft und des Sklavenhandels entlang der westafrikanischen Küste. Melilla wurde von den Spaniern eingenommen. Der Aufstand der Kabylen, 1921, endete im „Desastre de Annual“, einem ungeheuren Blutbad. Der jahrelange Krieg in Spanisch-Marokko kostete Zehntausende spanischer Soldaten das Leben. Francisco Franco kommandierte die Söldnertruppen. Hier nahm der Spanische Bürgerkrieg 1936 seinen Ausgang. Und der (Exil-) Schriftsteller Juan Goytisolo widersetzte sich in seinen Romanen all‘ den imperialen Mythen: „die Identität ablehnen, wieder bei Null beginnen.“ Ein Lehrstück.
Hermann Barth

Honorée Fanonne Jeffers - Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois (Piper)

„Ein triumphales Debüt über Schwarze Geschichte und das Aufwachsen im Süden der USA“, urteilte die New York Times Book Review und die Washington Post glaubt gar, dass dieses „brillante Epos, wie es nur ein Mal in zehn Jahren erscheint“, die Sicht auf Amerika der Lesenden für immer verändern wird. Eins vorweg: die afroamerikanische Autorin Honorée Fanonne Jeffers hat mit diesem fast 1000seitigen Roman ein Opus magnum vorgelegt, das trotz Umfang schwer aus der Hand zu legen ist. Sie ist dermaßen nah an ihren Protagonisten, sprüht vor Intellekt, Charme und Authentizität, spielt mit Sprache (teils African American Vernacular English) und bricht mit Klischees. Ihre Protagonistin Ailey Pearl Garfield ist vorlaut, klug und stolz. Und sie möchte die verschlungene Geschichte ihrer Familie verstehen. Denn sie trägt „das Erbe der Unterdrückung und des Widerstands, der Sklaverei und der Selbstermächtigung in sich“. Jeden Sommer reist sie nach Chicasetta, Georgia, ihre Großmutter wohnt dort in dem Haus, das früher dem Besitzer der Baumwollplantage Wood Place gehörte. Als Teil ihres Studiums gräbt sie tief und schürft eine zum Teil höchst grausame und auch komplexe Vergangenheit ihrer eigenen Familie stellvertretend für Abertausende zutage, die zum, bis heute wenig aufgearbeiteten, Erbe Amerikas gehört. Das Buch muss und wird in den Kanon der amerikanischen Literatur eingehen.
Rainer Germann

Patrick Aryee - 30 Tiere, die uns klüger machen (dtv)

Cool, wenn Homo Schlauschlumpf, die Krone der Vernichtung, sich dazu herablässt, Tiere nicht nur nach Gusto zu töten, misshandeln und auszubeuten, sondern auch mal von ihnen zu lernen: Einige Haiarten haben eine „makellose“, „seidig glatte“ Haut. Wow, sagt jetzt L’Oréal oder Vichy und denkt an neuen Beautyscheiß für die Konsum-Bunnys. Nichts da! Haihaut ist der Schlüssel zu sterilen Krankenhäusern: Sie ist so (gefühlt porentief) rein, weil sich dort keine Mikroorganismen ablagern können. Das bewirken winzige Placoidschuppen, die nebenbei den Strömungswiderstand senken. Eines der 30 Beispiele, die BBC-Bio-Reporter Patrick Aryee gesammelt hat. Sie alle zeigen das Inspirationspotenzial über Jahrmillionen entwickelter Tier-Skills und -Features. Ob es um leichte, aber stabile Brückenkonstruktionen geht (Gießkannenschwamm), um Kühlsysteme (Kamelhöcker und –nase), Sporthelme (Igel) oder um Filtersysteme, die Mikroplastik aus dem Wasser fischen (Mantarochen) - mit Geduld und Urschlamm hat die Natur geiles Zeug (Mensch ausgenommen) gewuppt. Mitunter hätte ein Bild geholfen. Ansonsten frisch erzählt und gut verdaulich. Netter Hirnsnack. Hoffentlich erntet der Autor keinen Shitstorm wegen (tier)kultureller Aneignung.
Jonny Rieder

Arno Geiger - Das glückliche Geheimnis (Hanser)

Das ist das Buch, das derzeit ganz oben auf den Lesestapeln der Verantwortlichen vom Münchner Amt für Abfallwirtschaft liegen dürfte. Und das ist nicht despektierlich gemeint. Ganz im Gegenteil: Der Voralberger Autor Arno Geiger, der 2005 mit seinem zweiten Roman „Es geht uns gut“ den Deutschen Buchpreis gewann und damit schlagartig berühmt wurde, kann nicht nur toll schreiben. Ganz nebenbei verbreitet er in der stark autobiografisch eingefärbten Vagabundengeschichte „Das glückliche Geheimnis“ auch spannende Anregungen für Reformansätze beim großstädtischen Recycling-Wesen. Zumindest wenn es um private Schriftstücke, Tagebücher, aussortierte Liebesbriefe, Geheimverträge, Bekennerschreiben oder zu Papier gebrachte Treueschwüre geht. Erzählt wird nämlich von einem jungen Wiener (aufgewachsen wie Geiger eigentlich in Wolfurt bei Bregenz), der durch die morgendlich noch sehr verschlafene Stadt zieht, um in blaue Tonnen und Altpapier-Container zu klettern. Was er sucht: Inspiration, Nervenkitzel, Schicksalhaftes – auf zerknülltem Papier. Ganz nebenbei rollt der Autor dabei eine Lebensgeschichte auf, die lumpig wirken könnte, aber doch von großer Lust und Erfüllung berichtet. Buchstaben-Sammelsucht: Kennen wir die nicht alle?
Rupert Sommer