Sebastian Wilhelmi organisiert mit gleichgesinnten Radl-Freaks eine tolle Spendenaktion
Herr Wilhelmi, drei Jahre Krieg gegen die Ukraine, die Bemühungen um Frieden stecken fest. Wie wichtig ist es, auch mit aufmerksamkeitsstarken Aktionen daran zu erinnern, wie viel Hilfe weiterhin vor Ort benötigt wird?
Je länger der Krieg dauert, desto länger leiden die Menschen in der Ukraine darunter. Bei allen politischen Entwicklungen halte ich es daher weiterhin für wichtig, dass das Augenmerk auf die unmittelbar von den Kriegsfolgen Betroffenen gerichtet bleibt.
Fahrradkette, ich hör‘ dich schnurren: Wofür steht eigentlich der Aktionsname Chainreaction?
Die stark beschädigte medizinische Infrastruktur war und ist ein massives Problem in der Ukraine. Als wir überlegten, wie man darauf reagieren könnte, erschien uns der Kauf von Rettungswagen sinnvoll. Den konnten wir aber unmöglich allein stemmen, also hat uns die Hoffnung angetrieben, dass unsere Aktion über Spenden zu einer Kettenreaktion in unserem erweiterten Umfeld wird. Zugegeben, dass Fahrräder mit Ketten angetrieben werden, spielte bei der Wortkreation auch eine Rolle.
Wie zu hören ist, hatten Sie selbst schon am früheren Kulturkonvoi, der unter anderem von den Sportfreunden Stiller unterstützt worden war, teilgenommen. Wie kam denn die Idee zustande, eine ganz andere Community zu aktivieren?
Rüdiger Linhof von den Sportfreunden Stiller hatte mit dem Kauf und Transfer eines Rettungswagens schon bald nach Kriegsbeginn gehandelt. Seine Idee wuchs dann über mehrere Fahrten in die Ukraine zum Kulturkonvoi heran, der von den Toten Hosen, Jan Delay, Udo Lindenberg, Rea Garvey und vielen anderen Künstlern finanziert und unterstützt wurde. Als mein nicht nur Radl-Freund Sebastian Herrmann und ich einen dieser zehn Kulturkonvoi-Wagen im Oktober 2022 nach Lviv gesteuert haben, war die Idee schon in unseren Köpfen, es auch in unserer Community zu versuchen. Die Fahrradbegeisterten sind viele, und im Peloton lässt sich so manche Herausforderung meistern – das war damals unser Credo.
Wie hat sich die Kern-Truppe gefunden?
Wir sind im Kern zu viert. Sebastian Herrmann und ich kennen uns schon seit vielen Jahren, Andi Lipp und Christian Schmid habe ich erst im Sommer 2023 über Sebastian kennengelernt. Wir brauchten aber nur wenig Anlauf, um als Gruppe zu funktionieren, denn ab einem leicht exzessiven Grad der Fahrradleidenschaft fühlt man sich einander schnell verbunden. Entscheidend ist aber unsere Partnerschaft mit dem Verein Bamberg:UA, der uns mit Know-how im Bereich Funding hilft und durch viele Jahre Ukraine-Hilfe unerlässlich für unsere Arbeit ist.
Wenn alles so weit klappt, wie geplant: Was wäre Ihr Ziel -und wie sieht es aktuell es auf dem Endspurt der Spendenaktion aus?
Das erklärte Ziel waren 10 Rettungswagen. Das ist ambitioniert, und wir haben uns zwischenzeitlich auch mal unsere Zweifel eingestanden. Zuletzt hat die Unterstützung aber enorm an Fahrt aufgenommen, und zum Stand Mitte Mai ist das Geld für 10 Wagen tatsächlich auf dem Spendenkonto. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar wir allen sind, die dazu beigetragen und uns mit Geld, guten Ideen, beeindruckenden Spenden-Radeltouren und Herzblut unterstützt haben. Mit diesem Rückenwind und frei nach dem Motto „weiter, immer weiter“ haben wir das Ziel noch einmal hochgesteckt und wollen das Dutzend vollmachen. Wenn also auch auf den letzten Metern noch möglichst viele Leute helfen, dann werden wir auch das schaffen. Übrigens würden die Wagen auch noch in dem, leider schwer vorstellbaren, Fall benötigt, dass es in naher Zukunft zu einem Frieden kommt, der diesen Namen verdient.
Flyer und zunehmend auch Ihr Logo auf Caps und Shirts sieht man ja immer öfter in der Stadt: Wie schwer war es, die entsprechenden Partner zu finden?
Wir haben uns zum Glück nie darauf festgelegt, ob wir eher auf kleinere Spenden von vielen Leuten oder größere Beträge von Unternehmen und Großspendern setzen sollten. Also haben wir es mit Flyern, Postern und Charity-Rides genauso versucht wie mit Mails an die Großen der Fahrradbranche und an Multiplikatoren. Gefreut haben wir uns über jede Reaktion und jede Form der Hilfe. Überrascht haben uns besonders die kreativen Aktionen. Den Vertrieb unserer eigens kreierten Fahrradtrikots hat beispielsweise kurzerhand Rose-Bikes in die Hand genommen und in nur wenigen Wochen 407 Stück verkauft. Pro Trikot gingen 50 Euro in unsere Initiative, wovon Rose einen Teil als Unternehmensspende beigetragen hat.
Wie kommt man eigentlich an die gebrauchten Rettungsfahrzeuge?
Es gibt Menschen, die sich darauf spezialisiert haben, solche Wagen wieder fit zu machen, damit sie mit frischen TÜV-Siegeln, sowohl für das Fahrzeug als auch für dessen medizinische Ausstattung, wieder Leben retten können. Auch an dieser entscheidenden Stelle hilft uns Bamberg:UA.
Wie kann man jetzt noch die Aktion unterstützen?
Jede einzelne Spende hilft, egal in welcher Höhe. Wie man spendet, steht auf unserer Webseite. Wir freuen uns außerdem über alle, die in ihrem Freundes- oder Kollegenkreis oder ihren Followern auf Social Media davon erzählen. Je mehr Reichweite, desto mehr Spenden. Auch Beträge, die nach dem 5. Juli eingehen, landen weiterhin bei Bamberg:UA und unterstützen Hilfsprojekte für die Ukraine.
Geplant ist ja auch, dass Radler aus München den Konvoi begleiten: Wie kann man da mitmachen?
Es kann jeder mitradeln, der Lust hat, wenn wir am 5. Juli in München starten. Am besten meldet man sich an, damit wir wissen, mit was für einem Peloton wir es zu tun haben werden. Alle Infos und Links zur Anmeldung stehen auf unserer Webseite www.chainreaction-bikeconvoy.org.
Wie viel Erfahrung im Langstrecken-Radeln setzen Sie voraus?
Keine, denn man kann wahlweise nur ein paar Kilometer oder eine, zwei, drei … oder alle sechs Etappen mitfahren. Zurück kommt man mit Rad, Zug oder Bahn. Und für Fahrer, die die gesamte Distanz oder die Strecke im „Brevetmodus“, also mit Zeitlimit, fahren, werden wir versuchen, einen Rücktransfer anzubieten. Und wir planen Stopps ein, auch um innezuhalten, denn die fünfte Etappe führt vorbei am ehemaligen deutschen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen, das vor genau 80 Jahren befreit wurde. Es gibt kaum einen Ort, der Menschenverachtung eindringlicher vermittelt. Auf dem Weg in Richtung Kriegsgebiet wird diese Unterbrechung der Fahrt ein besonders denkwürdiger Moment.
Sie waren ja selbst schon viel mit dem Rad unterwegs: Hätten Sie geahnt, auf was Sie sich da einlassen?
Ich gebe zu, Respekt vor der Fahrt zu haben. Das liegt aber weniger an den Kilometern, als vielmehr an der schwer fassbaren Tatsache, dass uns der Krieg in Europa zu unserer Initiative angetrieben hat. Dieser Gedanke wird uns, denke ich, alle begleiten.
Letzte Frage: Zumindest bei einigen Mitmenschen haben Radfahrer ja nicht den Ruf, besonders zurückhaltende, auch bei Ampelstarts rundum friedfertige Verkehrsteilnehmer zu sein. Trotzdem: Was kann man von ihnen über Teamgeist und Aufeinander-Achten lernen?
Ich weiß, auf welche Radfahrer Sie anspielen, und würde einigen etwas mehr Gelassenheit wünschen. Gleichzeitig mag zumindest manche empfindliche Reaktion von Radlern darin begründet liegen, dass man ohne Blechpanzer in brenzligen Verkehrssituationen der Schwächere ist. Ansonsten steckt im Radfahren viel Mensch-Sein: Pannenhilfe, Windschatten, Rücksichtnahme und, wenn nötig, Zuspruch – das alles trägt dazu bei, dass niemand auf der Strecke bleibt.
Unermüdlich auf Achse: Sebastian Wilhelmi, einer der vier Mitorganisatoren der Spendeninitiative Chainreaction, könnte problemlos jeden Tag auf dem Rad sitzen, wie er sagt. Der frühere Radrennfahrer verbringt seine Zeit aber zu gern auch im Management eines Medienunternehmens. Vom ganz speziellen Ethos seines Sports und von der Ukraine-Hilfe ist er fest überzeugt: „Weil wir Radfahrer sind, weil wir Mitmenschen in Not helfen. Weil wir viele sind“, so Wilhelmi. „Weil wir reagieren, wenn Freunde bedrängt werden. Weil wir ein Netzwerk aus Radfahrern sind, das stark ist und Berge versetzen kann, wenn wir zusammenhalten und eine Kettenreaktion starten.“ Wer noch spenden – oder ab 5. Juli mitradeln will: www.chainreaction-bikeconvoy.org.