Neue Bücher von Sebastian Haffner, Nell Zink, Friedl Benedikt, Maike Albath und Joël Dicker
Sebastian Haffner – Abschied (Hanser)
Eine späte Entdeckung und wohl eine der charmantesten Sommerlektüren: Sebastian Haffners Roman „Abschied”, 1932 in nur wenigen Wochen geschrieben, erzählt atemlos und melancholisch eine autobiografisch geprägte Liebesgeschichte vor dem Ende der Weimarer Republik. Der junge Berliner Rechtsreferendar Raimund verbringt 1931 wenige Tage in Paris bei seiner Jugendliebe Teddy, obwohl er ahnt, dass ihre Geschichte eigentlich schon vorbei ist. Teddy ist das umschwärmte Zentrum einer unbeschwerten Gruppe junger Menschen, die in ihrer winzigen Mansardenwohnung unentwegt Gitanes raucht, durch die Cafés im Quartier Latin streift, über Literatur und Kunst, manchmal über das Weltgeschehen, meist aber über herrlich Belangloses diskutiert. Raimund verbringt die Stunden vor seinerRückreise nach Berlin im Rausch der Erinnerung, wehmütig, „als hätte man sich die Seele irgendwo festgeklemmt.” Der damals erst 24-jährige Haffner schreibt so ungefiltert, intensiv und mit einer Leichtigkeit wie vielleicht nur von der ersten Liebe erzählt werden kann. Und setzt gleichzeitig dieser Zwischenkriegsgeneration ein Denkmal. „Die Krise war noch nicht richtig erfunden”, Politik bleibt Hintergrundrauschen, doch die Vorzeichen sind da. Dieses frühe Werk des großen Publizisten Sebastian Haffner offenbart nicht nur sein schriftstellerisches Talent, sondern nimmt auch seinen hellsichtigen Blick vorweg, der sich wenige Jahre später in seiner „Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933” zeigt. „Abschied” ist eine hinreißende Hommage an Haffners Jugendliebe und das Paris der 1930er und gleichzeitig ein eindrucksvolles Zeitdokument. (Schauspieler Matthias Brandt liest zum Saisonabschluss am 28.7. im Literaturhaus München aus Sebastian Haffners Roman).
Alke Müller-Wendlandt
Nell Zink – Sister Europe (Rowohlt)
Durch eine lange Berliner Nacht: Es ist eine eigenwillige kleine Ersatzfamilie, die sich auf einer zunächst pompös faden Literaturpreisverleihung trifft und dann durch den Tiergarten irrlichtert: ein Architekturexperte und sein Trans-Tochter Nicole, ein arabischer Prinz, der alberne Aufreißertyp Toto, der sich Begleiterinnen im Internet bucht, und eine feine ältere Dame, die mitten im gesichtslosen Niemandsland der leeren neuen Mitte in einer Glas-Villa zwischen den Hochhäusern lebt. Man will mit dem angebrochenen Abend noch etwas anfangen und zieht durchs Dunkle – auf Schritt und Tritt verfolgt von einem Kriminalpolizisten, dessen Weltbild jenseits von Recht und Gesetz schief hängt. Genauso auf Schritt und Tritt dabei: die Berliner Weltgeschichte mit den vielen Trümmern, Stolpersteinen und Moos-überwachsenen Geheimorten. Und natürlich muss es auch zu einem Rave gehen – auf einem archaischen Abstieg in die Unterwelt, zumindest in einen verbotenen Raum über den U-Bahn-Gleisen. Was den Roman der amerikanischen Wahl-Berlinerin Nell Zink vorantreibt, ist aber nicht die äußere Handlung. Es sind die Gespräche, die immer wieder um Identitätsfragen, Geschichte, Mythen, Verunsicherung und Selbstbehauptung kreisen. Es ist ein Reigen, eine Odyssee, eine sehr weltliche Pilgerreise – garniert mit Humor, trocken wie staubiger Märkischer Sand.
Rupert Sommer
Friedl Benedikt – Warten im Schnee vor deiner Tür (Zsolnay)
Friedl Benedikt (*1916) war eine österreichisch-jüdische Schriftstellerin, die zu Lebzeiten im britischen und später im schwedischen Exil als „Anna Sebastian“ drei Romane in englischer Sprache veröffentlichte und die 1953 in Paris viel zu früh an Lymphdrüsenkrebs verstarb. In ihrem 21. Lebensjahr traf sie -noch in Wien- den Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der Zeit ihres Lebens ein großer Einfluss für sie bleiben sollte und der sie zum Tagebuchschreiben motivierte. So. Jetzt wissen Sie etwas über Benedikt, aber kennen tun Sie sie nicht. Dafür müssen sie schon zu ebenjenen Tagebüchern greifen, die so wunderbar verspielt, menschennah und von großer Beobachtungsgabe für kleine und große Umwälzungen des Lebens geprägt sind, dass man bei der Lektüre glaubt, mit einer sehr guten Freundin am Tisch zu sitzen. Als charmant-exzentrische Erzählerin zeigt sie uns, dass gerade in wild fantasierenden Ausschmückungen (Selbstverursachte Überschwemmungen! Unglaublich dicke Briten! etc.) das Tagebuch der Wahrheit ihres Erlebens näherkommt, als es eine schlichte Wiedergabe des faktisch Geschehenen je könnte. Dabei ändert sich durch die Jahre und biografischen Stationen ihr Tonfall. Es ist rührend, wie sie 1939 vor Fabulierfreude sprudelt, durch Begegnungen ins wilde Assoziieren gerät und so auch von Menschen und Situationen aus ihrer Vergangenheit erzählt, während sie 1950 im Krankenhaus in poetischen Vignetten das Wesentliche berichtet. Zusammengehalten von der editorischen Arbeit des Verlages. Ein wundervolles Buch.
Franz Furtner
Joël Dicker – Ein ungezähmtes Tier (Piper)
Im Sommer darf es gerne einmal ein bisschen leichtere (Strand-)Lektüre sein – zumindest, wenn es sich um eine überwiegend spannende, fast schon filmreife Geschichte handelt. Und eine, die den Voyeur im Lesenden weckt – zu gerne be-obachtet man mit dem Polizisten Greg die reichenNachbarn in ihrem Glashaus am Genfer See. Sophie und Arpad Braun, ein attraktives Vorzeigepärchen mit zwei ebenso hübschen Kindern, scheinen das Leben zu führen, das Greg und seiner Familie schon immer vorschwebte. Durch geschickte Perspektivwechsel verwebt der Schweizer Bestsellerautor die Handlungsbögen; die Hauptpersonen haben schon bald allerhand Geheimnisse vor- und miteinander, und Begegnungen mit der Vergangenheit werden außerdem zur psychischen Zerreißprobe. Wie der Titel schon suggeriert, geht es Dicker auch um die Triebhaftigkeit seiner Figuren – um Macht, Verrat und, ja, Obsession: „Greg empfing Bild und Ton aus dem braunschen chlafzimmer. Er sah die an den Bettpfosten gekettete Sophie und war gleichermaßen starr vor Staunen und entzückt von diesem Anblick.“ Aha. Warum ein Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft ein besseres Geburtstagsgeschenk als ein Brillantring sein kann, erfährt man außerdem in diesem Pageturner. Aber vorher noch mal kurz ins Wasser.
Rainer Germann
Maike Albath – Bitteres Blau (Berenberg)
Der Neapel-Hype, der seit Jahren mehr und mehr Touristen lockt, lebt auch vom schlechten Image der Stadt. Für eine Dolce & Gabbana-Kampagne posieren Models vor zerbröckelnden Gebäuden und dunklen Gassen. Die preisgekrönte Verfilmung von Roberto Savianos „Gomorrha“ wirft einen tiefen Blick in das Elend der Vele – einst Vorzeigeprojekt des sozialen Wohnungsbaus. Die erfolgreiche TV-Serie spielt ein gefährliches Spiel mit dem Faszinosum des brutalen Camorrista. Immer wird das Klischee vom „Hort des Zerfalls und der Fäulnis“ aufgerufen. Höchste Zeit für ein differenziertes Bild, wie es Maike Albaths „Bitteres Blau“ entwirft. Die versierte Italienkennerin erkundet Viertel, Vorstädte und Fabrikruinen am Meer, wo sie die Akteure des Aufbruchs trifft. Wir sind „live“ dabei, als „Napoli“ nach 30 Jahren wieder Meisterschaft feiern kann. Eine tolle Teamleistung, aber auch ein Werk von Trainer Spalletti, den sie „den wahren Erben Maradonas“ nennen. Wir lernen einen kämpferischen Priester kennen, der die Jugend der Sanità von der Straße holte. Don Antonios Kooperative „La Paranza“ bietet heute Führungen durch die Katakomben San Gennario, ein Bed & Breakfast, sogar ein eigenes Theater. In der Scampia, früher Drogenumschlagplatz Nr.1, begegnen wir einem „Bücher-Dealer“. Kapitel zu Geschichte und Literatur Neapels berichten vom berühmten Kulturphilosophen Benedetto Croce, der sich dem Ungeist der Mussolini-Faschisten entgegenstellte. Und natürlich vom gefeierten Camorra-Gegner Saviano, der mit Personenschutz im Teatro Bellini performt. In brillanten Porträts wird an Leitfiguren des weiblichen Erzählens erinnert, von Matilde Serao bis Elena Ferrante. Wen wundert’s, dass unser Stadtrundgang in einer legendären Buchhandlung endet, deren Inhaber selbst ein großer Geschichtenerzähler ist. Im „Dante & Descartes“ fand 2006 die erste Buchpräsentation Savianos statt – vor einer Handvoll Zuhörer.
Eveline Petraschka
Maike Albath stellt ihr Buch am 3. Juli im Literaturhaus vor