Schwebt über den Dingen: Alain Roche

Ausnahmekünstler Alain Roche: „Bindeglied zwischen Himmel und Erde“

Beflügelnd: Alain Roche, Ausnahmekünstler aus der Schweiz, spielt ab 22. Dezember täglich ein Morgenkonzert im Werksviertel – am Stahlseil

Herr Roche, großen Respekt vor Ihrer schöpferischen Energie und Ihrer künstlerischen Furchtlosigkeit. Wie um alles in der Welt sind Sie auf die Idee gekommen, das Piano vertikal zu spielen?
Ich stelle mir gerne vor, dass das, was ich sehe, nicht unbedingt das ist, was ich denke, das ich bin. Wenn ich zum Beispiel als Kind in meinem Zimmer auf dem Boden lag, schaute ich an die Decke und dachte, es sei der Boden. Meine ganze Welt veränderte sich in einem Augenblick. Nach einem Konzert, einer „horizontalen“ Tour, unterhielten ein Freund und ich uns wieder über diesen Wunsch, diese Besessenheit, die Codes umzustoßen. Und so kam ich auf die Idee, das Klavier auf den Kopf zu stellen.

Wie förderlich war es für Sie, in einem Land mit majestätischen Bergen aufzuwachsen, um keine Höhenangst zu haben?
Lange Zeit hatte ich die. Und trotzdem entschloss ich mich schon damals, dieses Projekt ins Leben zu rufen. Das erste Mal war furchteinflößend für mich. Und mir wurde klar, dass der einzige Weg, weiterzumachen, darin bestehen würde, jegliche Kontrolle loszulassen und somit meinem Team vollkommen zu vertrauen. Es nimmt das Klavier in jeder Phase sicher an den Haken und lässt es mit mir aufsteigen. Seitdem ist es einfach: Ich muss „nur“ Klavier spielen.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie kopfüber an einem Stahlseil hängen?
Ich fühle mich wie ein Vogel! Ein Vogel ist auf jeden Fall das Tier, das ich gerne wäre, wenn ich mich für ein Leben dieser Art entscheiden müsste. Vögel sind das Bindeglied zwischen Erde und Himmel. Für mich ist ein Vogel ein Symbol der Freiheit.

Tut das Spielen kopfüber nicht weh?
Es ist nur eine Frage der Übung. In dieser Position trainierst du ganz andere Muskeln als sonst. Auch abseits der Tourneen steht mein Klavier vertikal in meiner Wohnung. Ich befinde mich zwar nur wenige Zentimeter über dem Boden, aber so kann ich diese Spieltechnik täglich üben und meine Spielweise in dieser Position durchdenken.

Über Alain Roche

Luftikus: Alain Roche ist Pianist, Komponist und Designer. Er lebt im französischen Teil der Schweiz. 2013 entstand das ungewöhnliche Projekt, bei dem Klavierspielen zur Ganzkörpererfahrung wird. Alain Roche mag die Höhenluft. Und weil er schwindelfrei ist und den Thrill liebt, spielt er seitdem am liebsten nur noch etliche Meter über dem Boden schwebend Klavier. Seine Konzertreihe „When the Sun Stands Still“ gastiert ab 22. Dezember täglich frühmorgens im Werksviertel – bis 20. Juni. www.werksviertel-kunst.de

Sie haben für Ihr jüngstes, ambitioniertestes München-Projekt eine wunderbare Grundidee gewählt – die Zeit zwischen Winter- und Sommersonnenwende. Warum genau haben Sie sich für diesen speziellen Rahmen entschieden?
Mit „When the Sun Stands Still“ wollte ich mich mit dem Wandel auseinandersetzen. Um all das zu erleben, habe ich mich entschieden, den Klängen, Bewegungen und Zyklen der Natur zu lauschen und ihnen Beachtung zukommen zu lassen.

Das Leben, die Natur, die Lichter verändern sich dramatisch innerhalb der beiden zeitlichen Endpunkte. Was ist Ihre Lieblingszeit im Jahr, was macht die Wendepunkte für Sie so poetisch?
Mich fasziniert die Vergänglichkeit im Leben und in der Natur. Auch wie sich das Leben von der Nacht zum Tag mit der Morgendämmerung oder umgekehrt mit der Abenddämmerung verändert. Ich liebe aber auch den Wechsel der Jahreszeiten. Ich habe mich entschieden, in der Morgendämmerung aufzutreten, um eine Passage anzubieten, die zum Licht führt – von der Nacht zum Licht sowie vom Winter zum Sommer. Aber wenn ich das Jahr zu einer bestimmten Zeit im Jahr anhalten müsste, würde ich den Herbst wählen.

Warum?
Es ist einfach dieser Moment, in dem Tod, Dekonstruktion, Verfall in der Natur so zarte, weiche, harmonische Farben annehmen, dass ich jedes Jahr mehr daran glaube, dass die Endlichkeit großartig ist.

Die Konzertreihe ist ein ziemlicher Marathon. Können Sie jetzt schon abschätzen, wie Sie das körperlich aushalten – jeden Tag ein Konzert?
Die Idee von einer Erholung am Wochenende ist ein menschliches Konzept. In der Natur gibt es Kreisläufe, aber keine Wochenenden. Ich bin davon überzeugt, dass man jeweils am selben Tag eine Balance zwischen Aktivität und Erholung entdecken kann. Ich bin gespannt, wie ich sie finde.

Gibt es ein spezielles Training, wie Sie sich dafür fit halten werden?
Ja, seit mehr als zehn Jahren absolviere ich täglich Übungen, die von einer Tänzerin speziell für die Vorbereitung auf das um 90 Grad gedrehte Klavierspiel entwickelt wurden. Zuerst dachte ich, dass diese Arbeit nur für dieses Projekt nützlich ist. Aber sehr schnell verstand ich, dass es in jedem Moment meines Lebens von Vorteil ist. Also praktiziere ich das Training immer noch. Alles wird in diesen sechs Monaten einfach intensiver sein.

Steckt ein Athlet unter dem Künstler in Ihnen?
Nein. Ich bin einfach ein Pianist, der in einer besonderen Position Klavier spielt.

Sie müssen ein leidenschaftlicher Frühaufsteher sein: Was macht den Tagesanbruch für Sie so faszinierend?
Ja, der bin ich. Ich habe meinen Körper an den Rhythmus der Sonne gewöhnt, um die blauen Stunden zu genießen. Die blaue Stunde beginnt, wenn die Sonne auf minus 10 Grad unter dem Horizont steht, und endet, wenn sie minus zwei Grad erreicht – einige Minuten vor Sonnenaufgang. Während dieser Zeit wechselt der Himmel ständig seine Farbe. Es ist ein Wechsel von Mitternachtsblau zu Tagblau. Mich faszinieren diese Momente, diese Verdichtung der Veränderung.

Warum?
Es ist dieses sanfte und elektrische Licht, dieser Ruf zum Neuanfang. Die blaue Stunde startet und endet jeden Tag zu einer anderen Zeit, abhängig von der elliptischen Bewegung der Erde. In München beginnt die erste Aufführung am 22. Dezember um 6:58 Uhr und dauert 48 Minuten. Die blaue Stunde am 20. Juni bricht um 15:54 Uhr an und dauert dann 62 Minuten.

Normalerweise würde man kein Konzert zu so früher Stunde erwarten: Haben Sie nicht Angst, dass die Leute im Publikum einnicken oder ihre Gedanken zu weit schweifen lassen?
Ich bin mir sicher, dass der Besuch eines Konzerts unter freiem Himmel zu dieser Zeit ein Akt ist, der den gewohnten Rhythmus des Zuschauers etwas stört und es ihm ermöglichen kann, seinen Tag auf eine andere Art und Weise zu beginnen. Und wenn meine Performance in seinem Kopf Fahrt aufnimmt, kann ich mich nur freuen.

Wird es nicht noch schwieriger für Sie werden, wenn der Sonnenstand sich ändert und Sie in wärmeren Zeiten dann besonders früh aufstehen müssen?
Nein, überhaupt nicht. Denn wenn man es schafft, sich auf den Rhythmus der Sonne einzustimmen, scheint alles einfach. Aber da unsere Gesellschaft und unsere sozialen Beziehungen nicht in diesem Tempo funktionieren, ist es manchmal eine schwierige Aufgabe. Das ist auch für mich die Herausforderung bei diesem Projekt.

Was ist Ihre größte Angst – eiskalte Finger, Regen, Schnee?
Nichts, was die Wetter-Seite betrifft. Den Elementen kann man und sollte man vom Kopf her begegnen. Meine einzige Angst könnte allerdings Sorge um meine innere Verfasstheit sein.

Was Sie spielen, wird jeden Tag eine Premiere sein: Wie schwierig wird es sein, jedes Mal neue Ideen zu finden?
Bei der ersten Aufführung am 22. Dezember werde ich das Klavierstück „Winter Solstice“ spielen, das ich im Frühjahr 2022 auf der Insel Fleinvær, einer kleinen, fast menschenleeren Insel oberhalb des Polarkreises in Norwegen, komponiert habe.

Was macht das Stück so besonders?
Es ist inspiriert von Klängen, die für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar sind, aber in der Natur vorkommen. Die Partitur basiert auf dem Anziehungssystem der Sterne – und spiegelt unsere Jahreszeiten auf der Erde. Das Publikum wird bei jedem neuen Konzert mit Kopfhörern ausgestattet, um die Immersion zu fördern. Es wird natürlich das Klavier hören, aber auch die Geräusche der Bewegungen der Natur, die in sieben Naturorten in Bayern und der Schweiz eingefangen wurden.

Wie muss man sich das vorstellen?
Es wird Klänge aus Sümpfen mit Wasserbüffeln geben. Aus einem Wald, der von Luchsen, Wölfen und Eulen bewohnt wird. Aus einer tausende Jahre alten Höhle, in der man das Entstehen von Stalaktiten und Stalagmiten live hören kann. Es kommen Klänge von einer wissenschaftlichen Station, die Schnee und Luft auf einer Höhe von fast 3000 Metern, dem höchsten Ort Deutschlands, misst. Klänge von einem Bach mit einer besonderen Fauna und Flora, von einem ungewöhnlichen Ort auf einem Dach mit Schafen, Bienen, Ameisen oder aus der Schweiz vom majestätischen Aletschgletscher!

Klingt aufwändig.
Ist es auch. An jedem dieser Orte installieren wir Mikrofone – in der Erde, auf und in den Pflanzen, im Wasser, in der Luft und im Eis -, die in der Lage sind, die aufgenommenen Geräusche bis zu 1000-fach zu verstärken. Wir können so hören, wie Baumharz fließt, wir belauschen Diskussionen zwischen Insekten, die Fotosynthese von Algen oder die Geräusche von Eisblasen.

Wie werden die Klänge konkret integriert?
Der Klangkünstler, der mich nach München begleitet, erhält dieses Rohmaterial per Audio-Streaming, über das Internet. Über ein eigens für das Projekt von der Zürcher Hochschule der Künste entwickeltes Interface wählt er Klänge aus, mixt sie und überträgt sie live auf die Kopfhörer der Zuhörer. Es sind genau diese Klänge, die eine langsame Transformation der Komposition des ursprünglichen Klavierstücks erzeugen werden. Tatsächlich werde ich jeden Tag einen kleinen Teil des Klavierstücks umschreiben – als Reaktion auf die Klänge, die ich am Morgen während der Aufführung höre. Und am nächsten Morgen wieder.

Wie sehr hilft frische Luft beim Improvisieren?
Ich möchte mich durchlässig machen für die Klänge, die ich gemeinsam mit dem Publikum entdecke. Es wird also ein Element der Improvisation geben.

Das Werksviertel ist ein geschäftiger Ort, der sich ständig verändert – und die Leute aus den umliegenden Büros werden früh aufstehen. Was macht einen Ort voller Baustellen und Verkehr für Sie zu einem magischen Ort?
Ich freue mich sehr, dieses Projekt im Herzen der Stadt München aufbauen zu können, inmitten einer dichten, reichen und abwechslungsreichen städtischen Betriebsamkeit. Die Vielfalt in diesem Viertel berührt mich. Und eine Brücke zwischen dem Urbanen und der Natur durch Audio-Streaming-Technologie zu schlagen, bekommt in einem Viertel, das so sehr auf Vielfalt achtet, seine volle Bedeutung.

Sie scheinen Herausforderungen hinterherzujagen und wirken so, als ob Sie Risiken lieben. Wie kann ein Projekt wie ein halbjähriger Marathon auf dem vertikalen Klavier beim nächsten Mal getoppt werden?
Was meine Projekte antreibt, ist immer der Kontrast. In der Performance „Chantier“ – die wir 2020 im Herzen der Baustelle des Werk 4 und auf der Brache des zukünftigen Klassikkonzertsaals aufführen durften – wollte ich den Zuschauer*innen ein Eintauchen in einen verbotenen, unvollständigen, rohen und schrillen Ort mit einem Konzertflügel bieten: Auffällig, edel und durch die Lüfte fliegend. Bei „When the Sun Stands Still“ treibt mich immer noch der Wunsch an, diese Grundidee zu variieren und ihr den Himmel zu erschließen. Ich versuche, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und lande daher bei der Einfachheit. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass das nächste Projekt mich dazu bringen wird, mein Klavier wieder auf eine horizontale Ebene zu stellen. Wer weiß?

Interview: Rupert Sommer