Sinnlose Suche nach Sinn: Margret Köhler über „Der Fremde“ von François Ozon in unserem Filmtipp des Monats
„Jeder Film ist für mich ein neues Abenteuer. Sonst würde ich den Job an den Nagel hängen. Am liebsten würde ich zwei oder drei Filme jährlich drehen“: François Ozon, Frankreichs umtriebigster Regisseur brachte es in 27 Jahren auf 24 Filme und scheint keine Angst zu kennen, Schwierigkeiten fixen ihn eher an und vor heiklen Themen wie in „Die Zeit die bleibt“ oder „Gelobt sei Gott“ scheut er nicht zurück, er kann aber auch Mainstream wie „8 Frauen“. Mit seiner Adaption von Albert Camus‘ „Der Fremde“ (bisher mehr als 700.000 Zuschauer im Nachbarland) beweist er Wagemut und Risikolust, fasziniert das existenzialistische Meisterwerk doch seit seinem Erscheinen 1942 Generationen und galt lange als unverfilmbar, sogar der große Visconti scheiterte 1967 mit seiner Fassung. Aber wenn Ozon sich etwas in den Kopf gesetzt hat, zieht er es durch.
Algier, 1938. Ein junger Mann wartet im Gefängnis auf seine Hinrichtung wegen Mordes an einem Einheimischen. In Rückblenden entfaltet sich das Drama. Meursault, ein junger Büroangestellter zeigt bei der Beerdigung seiner Mutter keine Trauer, beginnt schon am nächsten Tag eine Affäre mit einer früheren Kollegin (Rebecca Marder), sie schauen sich im Kino einen Film mit Fernandel an und schlafen miteinander. Es ändert sich nicht viel, der 30-jährige treibt durchs monotone Leben, ein neuer Job in Paris ist ihm egal, die Liebe von Marie nimmt er hin und wenn sie ihn heiraten will, auch gut.
Meursault zieht den Revolver…
Dann der entscheidende Tag. Nach einem Essen am Meer mit seinem Macho-Nachbar und dessen Freunden trifft er am Strand auf den „Araber“. Es ist heiß, die Sonne knallt, der Schweiß rinnt. Meursault zieht den Revolver und schießt, nicht einmal, sondern viermal. Eine impulsive und scheinbar unüberlegte Tat. In magischen schwarz-weiß Visionen entwirft Ozon ein Imperium der Absurdität und erreicht mit der Radikalität der Inszenierung einen neuen Schaffenshöhepunkt, stellt Bild und Handlung in den Vordergrund, ohne sich in Text-Erklärungen zu verlieren. Die Kamera bleibt nahe an Benjamin Voisin, ein Mann wie aus Marmor mit leerem Blick und trotzdem einer fast verzweifelten Sinnlichkeit, ein Mensch ohne Verständnis für konventionelle Moral auf der sinnlosen Suche nach einem Sinn, eine tragische Figur. Ozon hält sich weitgehend an die literarische Vorlage, beginnt aber mit Archivaufnahmen aus den 1930er Jahren, konfrontiert die idealisierte Kolonialisierung Algeriens durch alltägliche Unterdrückung wie „Verbots-Schilder“ für Einheimische und die soziale Kluft. Und Mersault wurde eigentlich nicht wegen des Mordes zum Tode verurteilt, sondern weil er sich den gesellschaftlichen Konventionen nicht unterwarf. Sein größtes Verbrechen: Nicht bei der Beerdigung seiner Mutter geweint zu haben.
Margret Köhler
