ZUGABE von Claudia Pichler: „Die Veranstaltung wird aus produktionstechnischen Gründen abgesagt“

Diese Phrase fällt derzeit oft und bedeutet meist übersetzt: Es wird abgesagt, weil zu wenig Tickets verkauft worden sind. Die Kulturbranche leidet schwer an Long Covid. Obwohl schon lange wieder uneingeschränkt veranstaltet werden darf, bleibt das Publikum zögerlich. Die Gründe sind vielfältig und nachvollziehbar. Viele Leute sind coronabedingt vorsichtig unterwegs, haben vielleicht noch Tickets für verschobene Konzerte an der Kühlschranktür hängen, müssen oder wollen vorsorglich sparen oder sind schlicht entwöhnt von Live-Kultur. Die ganz großen Events füllen die Schlagzeilen und die Arenen. Das wirkt dann schräg, hier spielen Geld und Masse offensichtlich keine Rolle.
Das Gros der Veranstaltungen aber leidet massiv unter mangelnder Nachfrage. In meiner kabarettistischen Gewichtsklasse in Sälen mit hundert bis zweihundert Gästen schmerzt schon ein geringer Rückgang der Ticketverkäufe. Hier gibt es keine großen Gewinnspannen, eine Veranstaltung wird für alle Beteiligten schnell unrentabel. Muss dann abgesagt werden, werden die tatsächlichen Gründe oft verschleiert. Niemand gibt gern öffentlich zu, dass die Nachfrage einfach zu gering war. Umso besser, dass sich immer mehr Musikerinnen und Kabarettisten dafür entscheiden, genau das zu tun. Lasst uns offen darüber sprechen, wie es um die Kulturwirtschaft steht, nämlich schlecht.
Persönlich schmerzt es mich, wie viele Leute inzwischen ganz gut ohne Live-Kultur auskommen.
Viele Bühnen, Künstlerinnen, Veranstalter oder technisches Personal hat es schon oder wird es bald finanziell oder emotional zerbröseln. Das lässt sich nicht schönreden. Persönlich schmerzt es mich, wie viele Leute inzwischen ganz gut ohne Live-Kultur auskommen. Auch wer sich ein Ticket leisten kann, greift nicht mehr so begeistert zu wie noch vor der Pandemie. Appelle, kulturelle Veranstaltungen doch bitte zu unterstützen, teile ich nur bedingt. Ich will, dass Menschen gern zu Events gehen, weil Live-Kultur einfach geil ist, aber doch nicht aus Mitleid. Ein kulturbegeistertes Publikum gibt es schon noch, aber oft eben nicht genug.
Jetzt droht also die nächste ungewisse Jahreszeit. Mit der herbstlichen Kälte kehrt die Virus-Furcht wieder, diesmal begleitet von Sorge um Inflation und unberechenbare Energiekosten. Auch wenn mein Tourplan für die nächsten Monate auf dem Papier super aussieht, weiß ich seit den letzten beiden Pandemie-Wintern, wie wenig das wert sein kann. Schwuppdiwupp sind da die Gigs nur so dahingepurzelt. Das ist das Risiko der Selbstständigkeit, nur eben in der verschärften 2022er Version. Jammern hilft nichts. Raus aus der Schockstarre und nach Alternativen suchen, das ist die Devise.
Mich führte diese Strategie zum Beispiel aufs Oktoberfest: 17 Tage Live-Moderation von der Wiesn. Das ist selbst für einen Wiesnfan wie mich kein Honigschlecken, sondern eine bierernste Angelegenheit. Aber die Wiesn ist bekanntlich endlich, wie soll es nach der freudigen Volksfestzeit weitergehen? Am liebsten wäre mir eine Alternative, die gleich alle meine Sorgen auf einmal löst: fehlendes Einkommen, steigende Lebenshaltungskosten und drohende Vereinsamung in der nächsten Corona-Welle. früher war alles besser!
Das hört man doch oft. Also wage ich einen Blick in die Geschichte meines Lieblingsviertels Haidhausen. Heute beklagen wir den angespannten Mietmarkt. Vor gut hundert Jahren sah das noch viel extremer aus. Da pilgerten etliche Landeier nach München zum Arbeiten, hatten aber null Chancen auf eine Wohnung. Schlafgänger nannte man die armen Seelen, die sich ein Bett auf Zeit mieteten. Genau, als Bettbesitzer in Haidhausen konnte man seine Schlafstätte untervermieten, während man selber seine Arbeitsschicht außer Haus ableistete. Im verklärenden Rückblick muss man natürlich manches Detail aussparen wie die Verbreitung von Flöhen, Tuberkulose, Krätze oder unehelichen Kindern. Aber vom Prinzip her ist das doch eine gute Idee!
Ich wär halt dann auch zuhause, falls mein Beruf mal wieder nicht ausübbar sein sollte. Schlafplatz mit Familienanschluss quasi, Schlafgänger herzlich willkommen. Ich denke besonders an das Klinikum im Viertel. Bestimmt gibt es den ein oder anderen attraktiven Unfallchirurgen, der ein Schlafplätzchen in Arbeitsplatznähe bräuchte. Phillipp, ein Anruf genügt!
Claudia Pichler ist Münchner Kabarettistin und derzeit mit ihrem Solo-Programm „Eine Frau sieht weißblau“ unterwegs, in München am 20. 10. im Hofspielhaus und am 26. 1. im Lustspielhaus. www.claudiapichler.com