Neue Bücher von Takis Würger, Stephan Lamby, Christian Mitzenmacher, Natasha Brown und Simonetta Agnello Hornby
Simonetta Agnello Hornby – Er war ein guter Junge (folio)
Sie müssen nicht Abstand halten, Signora Canetti“, sagt Anna … „Ihren Sohn und mich trennt schon genug“. Oh ja, und zwar Welten: Anna ist eine aktivistische Junganwältin, die sich nach Aufenthalten auf dem Festland in ihrer Heimat Sizilien für gerechte Wasserversorgung einsetzt; der Sohn, Giovanni Canetti, ebenfalls Anwalt, wird auf Drängen seiner übermächtigen Mutter Cettina die Karriereleiter hochgejagt, was im Sizilien der 1980er Jahre vor allem bedeutet, die „richtigen“ Leute zu kennen. Zusammen mit seinem Jugendfreund Santino Niscemi, der im überwiegend dubiosen Bauwesen der Insel erfolgreich Fuß fasste und ebenfalls von seiner dominanten Mutter Assunta dorthin geleitet wurde, legt Giovanni eine rasante Karriere hin, die die beiden mit ihren Familien aus dem provinziellen Sciacca bis in die Villenviertel Palermos gebracht hat. Doch der Erfolg bröckelt wie der schlecht gemischte, billige Zement von einem dieser „Richtigen“. Schon bald gibt es Opfer – bei einem Brückenunglück und in den eigenen Reihen. Simonetta Agnello Hornby entstammt einer palermitanischen Adelsfamilie, lebt aber seit 1972 in London als Menschrechtsanwältin und Autorin. In ihrem klug und ruhig erzählten Roman seziert sie mit feinem Florett sowohl die mafiösen Verstrickungen zwischen Justiz und Bauwesen als auch, in diesem Fall, die matriarchalisch geprägten, festgefahrenen Familienstrukturen, die meist keine Alternative zu materiellem Erfolg um jeden Preis sehen. „Das reicht nicht, meine Liebe. Das hat noch nie gereicht“, antwortet Cettina auf Annas Feststellung. Ein etwas anderer Mafiaroman, der Einblicke in die eher wenig „ehrenwerte“ Gesellschaft gewährt.
Rainer Germann
Christian Mitzenmacher – Knallkrebse (FVA)
Ach München. Damals. 2015. Tom studiert Physik, Laura Medizin. Wies’n, Christkindlmarkt, P1 … und immer mal Tischtennis hinter der Glyptothek. Mit Farid, 16, aus Quetta, für den Tom eine Patenschaft übernommen hat. Ist anfangs schräg, immer nah an der Überforderung, (für beide), wird dann immer intensiver. So ein Jungsding halt, trotz der 10 Jahre Altersunterschied, von Laura und Toms Bruder auch mal kritisch kommentiert. Farid gibt sich gerne cool. Hängt seiner ersten Liebe nach. Und hofft, und träumt, vom Wiedersehen, vielleicht in Budapest. Tom ist dagegen. Mischt sich heftigst ein. Gibt sich die Schuld, als Farid in die Psychiatrie gerät, kämpft nach Kräften für den Freund – um später zu erfahren, dass er hintergangen wurde. Endet (ohne Laura) gut am Surferstrand von Cap Ferret. „Knallkrebse“, das bringt Yev auf, Möchtegern-Businessman und bester Kumpel. Ziemlich verletzliche Tiere, aber äußerst beeindruckend, wenn es um Verteidigung und Rückzug geht. Sich zeigen. Nicht zeigen. Ich und die Anderen. Schönes Debüt – zwischen E und U, fast schon „authentisch“, mit Selbstzweifeln, Ironie, flotten Dialogen und viel Lokalkolorit. (Christian Mitzenmacher liest am Dienstag, 27.5. bei „Texte & Töne, Comic & Getränke“ im Literaturhaus).
Hermann Barth
Takis Würger – Für Polina (Diogenes)
Was sind das nur für Leute, die sich in der vergessenen Villa „Im Moor 1“ zusammentun? Der Sonderling Hildebrand, der das Naturschutzgebiet vor den Menschen schützt. Untermieterin Fritzi, sowas wie die Seele der Patchwork-Family, die ihren Sohn Hannes von einem Italientrip mitbringt. Und die schwarzäugige Polina, vaterlos wie Hannes, aber eine kleine Abenteurerin, während er eher der Typ Träumer ist. Paradiesische Tage verleben die Kids, wenn sie durchs Moor streifen, Vögel beobachten und Fritzis Spezialpasta schlemmen. Wenn Hildebrand aus vergilbten Dostojewski-Bänden vorliest, oder es Schallplatten-Klavierkonzerte gibt. In der Moorvilla erkennt der 8-jährige Hannes, dass er die Welt in Musik übersetzt. Hier veriebt er sich später in seine beste Freundin, die ihn zu seiner schönsten Sonate inspiriert. Das Schicksal will es anders, ihre Wege trennen sich. Hannes gibt das Klavierspiel auf. Doch, wenn traurige Liebe übermächtig ist wird er Poli mit ihrer Melodie zurückrufen. Takis Würger („Der Club“, „Stella“) hat selbst die Gabe, sich neu zu erfinden. Als frischgebackener Diogenes-Autor erzählt er in „Für Polina“ einen Mix aus Coming-of-Age, Künstler- und Liebesroman so klug, lebendig und charmant, wie für den Verlag gemacht. Kongeniale Marketing-Idee auch, die Buch-Tour mit Pianobegleitung am Schauplatz des filmreifen Romanfinales ausklingen zu lassen (Prinzregententheater 13.5.). Ob Polina der Einladung folgen wird?
Eveline Petraschka
Stephan Lamby – Dennoch sprechen wir miteinander (C.H. Beck)
Der 65-jährige Doku-Filmer und Autor Stephan Lamby hat sein wohl persönlichstes Buch geschrieben: Ein Jahr lang war er in den USA, Argentinien, Italien und Deutschland unterwegs, er lernte Menschen kennen, die ein Mittagessen zu Ehren Benito Mussolinis veranstalten, traf Anhänger des argentinischen Präsidenten Javier Milei, lunchte mit Björn Höckes Rechtsanwalt und war Gast in der lokalen TV-Show seines amerikanischen Cousins Martin, der beim Sturm aufs Kapitol dabei war. Entstanden sind Gesprächsprotokolle, historische Reflexionen und Erklärungsversuche für die zunehmende Radikalisierung in westlichen Demokratien. Was ist faul in diesen Staaten? Was fasziniert Menschen aus der bürgerlichen Mitte an Autokraten? Lassen sich im Dialog politische Gräben überwinden? Präzise und fair analysiert Lamby auf 248 Seiten, wie anfällig manche Menschen für eine antidemokratische Politik, für extreme Ansichten sind. Die Wut auf etablierte Politiker und Journalisten wächst, Demagogen nutzen das Vertrauensvakuum. Für Lamby leben wir in einer Ära des Präfaschismus – Mut machen ihm Menschen, die sich dem großen Sturm gegen die Demokratie entgegenstellen. Natürlich erklärt Lambys Momentaufnahme nicht alle Ursachen für den Rechtsruck, aber der Autor liefert einen moralischen Kompass, lotet Verständnisgrenzen aus und löst Barrieren zwischen ganz rechts und ganz links auf. Sein Plädoyer: Miteinander reden, auch wenn’s weh tut.
Wolgang Scheidt
Natascha Brown – Von allgemeiner Gültigkeit (Suhrkamp)
Ein Roman, wie ein Schlag auf den Hinterkopf – und zwar mit einem geklauten Goldbarren. Genau darum ging es auf einem abgelegenen herrschaftlichen Gutshof, auf dem eine Gruppe Hippies ein rauschendes Fest gefeiert hatte, das außer Kontrolle geriet. Für die Journalistin Hannah, die in Zeiten von Klick-Futter, KI-Geschreibsel und Sparwellen bei den Qualitätsmedien kaum mehr einen Auftrag ergattern kann, hört sich die Meldung nach Hoffnung an. Sie klemmt sich hinter die Geschichte, führt Interviews, spürt Abgetauchte auf – und bringt ihre Reportage tatsächlich unter. Mehr noch: Netflix möchte daraus eine Doku-Serie machen. Doch der Staub, den Hannah aufwirbelt, fühlt sich für sie rasch an wie toxischer Klebstoff. Es ist nicht die einzige Geschichte, die aufwühlt – und dann eine ganz andere Wendung nimmt -, im Zweitlingsroman von Natasha Brown. Die britische Autorin, die eigentlich Mathe in Cambridge studiert und dann lange in der Ellenbogen-Welt der britischen Finanzindustrie gearbeitet hatte, setzt auch diesmal Diskurse in Szene, die auch die auch im Soziologieseminar für Kopfzerbrechen sorgen könnten. Es geht um eine Gesellschaft fast ohne Zusammenhalt, um ökonomische Abgründe und den herben Schock, dass man nicht mal mehr eine gemeinsame Sprache spricht.
Rupert Sommer