An einem lauen Sommerabend beweisen Wilco auf dem Dachauer Rathausplatz, dass sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere sind – und werden euphorisch gefeiert.
Eigentlich dachte der Autor dieser Zeilen, dass er die Band noch nie gesehen hatte – allein zweimal urlaubsbedingt im Circus Krone verpasst. Nun wurde er von einem guten Freund und Kollegen darauf hingewiesen, dass 1998 Wilco zusammen mit Billy Bragg das gemeinsam aufgenommene Woody-Guthrie-Cover-Album „Mermaid Avenue“ (mit unveröffentlichten Stücken!) in der Muffathalle gespielt haben – stimmt, da war ma dabei. In Erinnerung blieben eher Bragg und die Vorband Hefner, die Liebe zu Wilco wuchs nach und nach – heute rangiert die Band in Gunst und Verehrung ganz, ganz weit oben.
Zu Recht: Das Konzert auf dem Dachauer Rathausplatz, für den Impresario und Kulturchef Tobi Schneider jedes Jahr im Sommer herausragende Acts bucht (hier spielten u. a. schon The National, Maxïmo Park, Patti Smith, Band of Horses), war bisher das Konzerthighlight des Jahres – diese Meinung teilte wohl auch ein Großteil des Publikums, zumindest dem stürmischen Applaus nach. Ein bestens gelaunter Jeff Tweedy erklärt gleich zu Beginn, man werde in zwei Sets mit einer kleinen Pause dazwischen spielen (es wurden 2 × 80 Minuten daraus, mit 20 Minuten Pause!); Wilco spiele praktisch als Support für Wilco – ein Gag, den Tweedy öfters wiederholte und am Schluss selbst albern fand. Überhaupt hat man selten einen sympathischeren, auch verschmitzteren Bandleader gesehen – umgeben von Ausnahmemusikern wie Nels Cline (Gitarre), Bassist John Stiratt, Glenn Kotche (Schlagzeug), Mikael Jorgensen (Piano, Keys) und Pat Sansone (Gitarre, Keys, Percussion) steuert Tweedy diese bestens geölte Wundermaschine einer Band durch praktisch alle gängigen Spielarten der Rockmusik: von Country, Soul und Blues über Westcoast und Collegerock bis Psychedelic, Noise und Krautrock. Dazu kommen harmonische Anklänge an Beatles, Beach Boys und Byrds, musikalische Erinnerungen an Grateful Dead, Stones, Replacements und Sonic Youth. Geht’s noch?
Ja. Aus diesen Ingredienzen basteln Wilco auf der Grundlage von Tweedys Songs einen fantastischen, höchst eigenen Sound – von der ersten Zeile „Fill up your mind with all it can know“ des krautig-verträumten Openers „Wishful Thinking“ bis zum finalen Rocker „I Got You (At the End of the Century)“ vom zweiten Album „Being There“. Dazwischen liegen drei Stunden, in denen die Band eine spannende, keine Minute langweilige Reise durch ihr bisheriges Œuvre unternimmt. Dem lässig-sommerlich folkigen „Evicted“ aus dem aktuellen Album „Cousin“ folgte das frühe Highlight „Handshake Drugs“ mit schönem McCartney-Bass und einem ersten Gitarrenduell zwischen Cline und Tweedy, das schon mal an ähnliche Battles zwischen Thurston Moore und Lee Ranaldo erinnerte. Was Drummer Glenn Kotche an seinem Set bei „I Am Trying to Break Your Heart“ veranstaltete – und wie der Rest der Band stoisch die Songstruktur beibehielt – war großes Ohrenkino zwischen Free Jazz und Krautrock.
Stiratts Bass trieb das herrlich poppige „Meant to Be“ vom neuen Album vor sich her, bevor mit einer großartigen Version von „Via Chicago“ und Cline an der Slide Guitar der nächste Höhepunkt anstand. Auch hier wird der Fluss von Kotches Drum-Gewitter mehrmals unterbrochen, und wieder lässt sich der Rest nicht aus der Ruhe bringen. Wahnsinn. Neil Young muss sich um sein Erbe nicht sorgen – Tweedy und Co. spielen definitiv in seiner Liga. Da passte die anschließende, an den Meister erinnernde Folkminiatur „If I Ever Was a Child“ ganz hervorragend; „You’ll Never Know“ bestach mit Sansones Honky-Tonk-Piano; „Forget the Flowers“ läutete den „Cruel Country“-Album-Teil mit „Bird Without a Tail / Base of My Skull“ und dem Titelstück ein. Mit Nels Clines flirrenden Triolen beim wunderschönen „Love Is Everywhere (Beware)“ und einem berührenden „Either Way“, bei dem Tweedy mal wieder stark an Lennon erinnerte, ging es in die wohlverdiente Pause – andere Bands hätten jetzt bereits ein großartiges Konzert hinter sich und säßen schon im Nightliner.
Bei Wilco ging es nun aber mit der Hauptband Wilco weiter: „The Late Greats“ von „A Ghost Is Born“ eröffnete die zweite Hälfte – überhaupt wurde das gerade zum 20. Jubiläum in einer Deluxe-Version wiederveröffentlichte Album fast in Gänze gespielt. Bei „Side with the Seeds“ ließ man dann wieder Nels Cline von der Leine – unglaublich, was dieser Ausnahmegitarrist seinen Fender-Gitarren für Töne entlockt.
Kleines Musiker-Intermezzo: Selten wurde vom Autor so eine Ansammlung von exquisiten Vintage-Saiteninstrumenten auf einer Bühne gesehen. Zwei Roadies versorgten Cline, Tweedy, Sansone und auch Bassist Stiratt nach jedem (!) Song mit einem neuen (meist sehr alten) Instrument, Wiederholungen gab es eher selten. Ebenfalls selten hat eine Band open air einen so guten Sound gehabt – der Mann am Pult: ein Meister seines Fachs.
Mittlerweile ist es dunkel geworden, und das stimmige „Hummingbird“, das mit seinem Music-Hall-Piano ohne Weiteres auch aus der Feder eines Ray Davies stammen könnte, bereitete das wirklich begeisterte Publikum auf eine formidable Version von „Jesus, Etc.“ vor. Was für ein großer Song. Das kryptische „Impossible Germany“ mit seinen flirrenden Arpeggios wurde von den College-Rockern „Box Full of Letters“ und „Annihilation“ abgelöst, das ironische „Heavy Metal Drummer“ frenetisch beklatscht; das Gitarren-Intro von „I’m the Man Who Loves You“ könnte auch von Jon Spencer stammen, und das repetitive „Spiders (Kidsmoke)“ erinnert live noch mehr an Neu! als auf dem „Ghost …“-Album – und beendete in einer extended Version mit einem superkrassen Nels-Cline-Solo das zweite Set.
Als Zugabe nochmal ein bisschen „Cruel Country“ mit „Falling Apart (Right Now)“, dann eine ebenfalls wunderschöne Version von „California Stars“ vom eingangs erwähnten Bragg/Wilco-Album. Mit dem beatlesquen „Walken“ und dem ebenfalls bereits erwähnten „I Got You“ ging ein Konzert zu Ende, das ganz wenig Wünsche offen ließ und für viele der Anwesenden lange nachhallen dürfte. „Die wohl beste Band der Welt“, kommentierte ein Bekannter, der Wilco schon an die Dutzend Mal gesehen hat, auf Social Media. Das mag übertrieben sein – aber komischerweise fällt dem Autor gerade auch keine bessere ein.