Bella nimmt sich, was Sie will

Anstiftung zur Freiheit: „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos

Unsere Filmkritikerin Dunja Bialas hat sich den neuen Film von Yoergos Lanthimos bereits angesehen

Frankensteins Tochter auf dem Weg in ihre selbstgewählte Mündigkeit – der griechische Ausnahme-Regisseur Yorgos Lanthimos inszeniert Mary Shelleys berühmten Monster-Mythos als feministisches Empowerment. Seine Kreatur ist die zarte Bella, hinreißend puppenhaft von Emma Stone verkörpert. Sie lebt im fantasiereichen Panoptikum ihres Schöpfers Dr. Godwin Baxter. Willem Dafoe spielt ihn als menschliches Kompositum mit zusammengeflicktem Hautlappen-Gesicht und künstlicher Verdauungs-Apparatur. Es ist das Viktorianische Zeitalter, die Wissenschaft betreibt unethische Forschungen, visualisiert in „Poor Things“ (Goldener Löwe, Venedig) in einer überbordenden Steampunk-Fantasie.

Wie sein berühmter Vorfahre Dr. Frankenstein hat sich Dr. Baxter auf die Animation toter Körper kapriziert, die er durch die Transplantation intakter Fremd-Gehirne belebt. Das Gothic-Anwesen des Wissenschaftlers ist von den grotesken Beweisen seiner gelungenen Tierversuche bevölkert: Da gibt es Gänse mit vier Beinen und Hühner, die bellen. Sein Meisterstück ist die bezaubernde Bella – die er aus dem toten Körper einer Selbstmörderin und dem Gehirn eines Ungeborenen kreiert hat, das die Frau bei ihrem Sprung in die Themse im Leibe trug.

Die Welt von Bella, dem Baby im Frauenkörper, ist schwarzweiß, verzerrt und für sie unverständlich – Lanthimos’ Kameramann Robbie Ryan lässt mit Fisheye-Linse die verschobenen Proportionen ihres Wonderlands noch irrer erscheinen. Gewaltige Puffärmel rahmen das grimassierende Schneewittchengesicht von Bella ein, ihr Oberkörper balanciert auf einer Wespentaille, unter der staksig zwei nackte Beine die Welt erkunden. Zu Tisch sitzt Bella auf einem überdimensionierten Baby-Stühlchen, wo sie alle möglichen Esswaren in sich reinstopft und wieder von sich gibt – bis sie entdeckt, dass man Obst nicht nur in den Mund stecken kann.

Die Entdeckung ihrer weiblichen Lust ist der erste Lernprozess. Es folgt eine Reise durch die ins Surreale gesteigerte, jetzt sehr bunte viktorianische Welt, nach Alexandria, Lissabon und Paris. An Bellas Seite ein schmieriger Anwalt, der von ihrer naiven Sexualität profitieren will. Während die neuen mechanischen Automaten eine Unheimlichkeit der anderen Art verströmen, entdeckt Bella, dass sie mit ihrem Körper auch ganz gut Geld verdienen kann – und emanzipiert sich auch aus ihrer kognitiven Unmündigkeit.

Bis dahin aber wirft die Exploitation der Unschuldigen und Unwissenden doch auch einige unschöne Fragen auf. Die Lanthimos aber ernst nimmt. Schon sein Oscar-gekrönter Vorgängerfilm „The Favourite“ feierte Queen Annes gleichermaßen lustvolle wie überbordend-monströse Körperlichkeit als selbstbestimmten Ausbruch aus einer königlich erstarrten Welt.

Wie auch die meisten von Lanthimos’ Figuren den Ausweg aus einem Gefängnis-Universum finden. Als Vorlage hier diente ihm jedoch, anders als oben angeteasert, nicht Shelleys berühmtes Gothic-Monster, sondern die Unabhängigkeitsallegorie „Poor Things“ des Schotten Alasdair Gray von 1992. Deren politische Dimension wird bei Lanthimos universell: Seine anarchische Figur ist eine zunächst sehr unkorrekte, dann unbedingt entfesselnd wirkende Anstiftung zur Freiheit. (Ab 18.1.)