Am Stammbaum erhängt. Franz Furtner über „Sentimental Value“ von Joachim Trier in unserem Filmtipp des Monats
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Was als erster Satz in „Anna Karenina“ steht, muss nun auch an gleicher Stelle in dieser Filmbesprechung herhalten, denn: Norwegen. Irgendwann in den 1950er Jahren: Eine Frau begeht -von Misshandlungen, die ihr im zweiten Weltkrieg angetan wurden, schwer traumatisiert- Suizid. Ihr Sohn, beim Freitod seiner Mutter gerade mal sieben Jahre alt, wird später der gefeierte Filmemacher Gustav Borg (großartig: Stellan Skarsgård), der sich in seinen Werken immer wieder eng mit der eigenen Familiengeschichte befasst. So spielt in einem seiner Filme über die Nazizeit eine seiner beiden Töchter als Kinderdarstellerin die Hauptrolle. Weitere 30 Jahre später, in unserer Gegenwart angekommen, setzt die Handlung ein.
Die Familie lebt ähnlich wie bei „In die Sonne schauen“ immer noch im gleichen Haus (was allerdings hier weniger Gothic-Atmosphäre mit sich bringt, als im deutschen Düsterepos) – so viel zur „Backstory Wound“ dieser Familie. Borgs andere Tochter, Nora (ebenfalls großartig: Renate Reinsve) ist inzwischen gefeierte Theaterschauspielerin, kämpft mit Depressionen und bekommt von ihrem Vater, der seit 15 Jahren keinen Film gedreht hat, die Hauptrolle in seinem nächsten -besonders persönlich angelegten- Film angeboten. Ohne das Skript zu lesen, lehnt sie ab. Borg findet Ersatz in der amerikanischen Schauspielerin Rachel Kemp (ja, auch großartig: Elle Fanning)…
Ein Film über Filmemacher
Soweit die komplexe Grundkonstellation des Plots, die im Film aber erstaunlich leichtfüßig aufgefächert wird. Wie in seinem großen Erfolg „Der schlimmste Mensch der Welt“ (2021) bedient sich Regisseur Joachim Trier auch hier diverser Bildästhetiken und Schnitt-Tricks. Wobei so mancher Meta-Erzählkniff -schließlich sehen wir einen Film über einen Filmemacher- das Arsenal noch bereichert. Jener Filmemacher und Patriarch, Gustav Borg, realisiert nur in zu geringen Ansätzen, dass er durch sein Projekt das transgenerationale Trauma, das durch seine Familie wabert, immer wieder aufs Neue aufkratzt. Am Ende will er sogar seinen siebenjährigen Enkel Erik, Sohn von Agnes, vor die Kamera stellen, was die Mutter wütend verweigert. Borg legt ihr nahe, dass Erik viel Leichtigkeit in den Film bringen könnte. Sie beschließt, das Skript doch mal zu lesen… Passend, dass „Sentimental Value“, der in Cannes den Grand Prix gewonnen hat, im Dezember in unsere Kinos kommt, wo die in uns schwelenden familiären Konflikte gerne mal kurz auflodern. Und dennoch oder gerade deswegen sei ein Kinobesuch mit Verwandten aller Art wärmstens empfohlen. Ein beeindruckender und -ich wiederhole mich hier gern- großartiger Film.
