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Von Freiheit und Missbrauch

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Kampf um Deutungshoheit: Götz von Berlichingen
Kampf um Deutungshoheit: Götz von Berlichingen © Münchner Volkstheater

Ein „Götz von Berlichingen“-Spektakel am Cuvilliéstheater und berührende „Bilder von uns“ am Volkstheater 

Was da 1774 auf die Bühne gebracht wurde, war ziemlich ungeheuerlich. Der junge Johann Wolfgang von Goethe provozierte mit seinem „Götz von Berlichingen“, lehnte sich gegen etablierte Theaterregeln und – wir sind mitten im „Sturm und Drang“ – auch gegen die Zeit auf: ein freier Reichsritter wehrt sich gegen Staat und Kirche, kämpft für seine Freiheit und Bedeutung.

Freiheit, das ist der zentrale Topos, den Regisseur Alexander Eisenach mit seiner Überschreibung und Neuinterpretation des alten Goethe-Textes interessiert, gerade in Zeiten, wo viele protestieren, weil sie ihre Freiheit eingeschränkt sehen. Am Ende werden wir sehen: die eine Freiheit gibt es nicht. Am Ende bleibt Goethe: „Die Bäume knospen und alle Welt ... hofft.“

Bis dahin aber dreht sich am Cuvilliéstheater auf der offenen Bühne mit dem Rudiment eines Portals die Theatermaschinerie mit allem, was sie hergibt (inklusive KI-Videos), ein buntes Spektakel in Ritterrüstungen, in das alles reinpasst: Mittelalter-Geschichte, Querdenker-Geraune, Revoluzzer-Phantasien, Gender- oder Aneignungsdebatte, Theater-Gags, Slapstick usw. Ein bestens aufgelegtes Ensemble – u.a. mit Hannah Scheibe, Myriam Schröder, Simon Zagermann – kokettiert, intrigiert, diskutiert, postuliert, manifestiert, infiltriert: eine Gesellschaft im temporeichen Kampf um Deutungshoheiten. Vincent Glander steht über dem: ein gnadenlos komischer Bischof und Kaiser. Eisenach tastet sich an der Goethe-Vorlage entlang und frönt dabei mitnichten nur dem lustvollen Kommentieren und Dekonstruieren. Lukas Rüppel, sein Vokuhila-Götz im schwarzen Kampfanzug, kennt neben der Wut – mit Live-Punkrock-Support – auch die Melancholie, das Sinnieren, den Frust. Großer Jubel. Und ein einsames Buh.

Am Volkstheater wird Verdrängtes in grelles Licht gezerrt. Das Thema: Missbrauch in einem katholischen Internat. In „Bilder von uns“ (uraufgeführt 2015) untersucht Thomas Melle (Jahrgang 1975) aber nicht die Rolle der Kirche, sein Fokus liegt allein bei den Opfern. Ein Nacktbild taucht auf, auf einem Handy, vor Jahren fotografiert im Internat von einem Pater. Das ist der Auslöser für Erkenntnisprozesse.

Jesko (Alexandros Koutsoulis), Malte (Janek Maudrich) und Johannes (Max Poerting) sind drei ExSchüler, nun um die 30, gesellschaftlich etabliert, beruflich erfolgreich in den Medien, als Anwalt, in der Werbung. Der vierte, Konstantin (Jan Meeno Jürgens) hat dagegen keinen Fuß auf den Boden bekommen. Grelles Licht: so ist auch Jeskos weiß-schicke Wohnung ausgeleuchtet. Hier haben die Wände große Lücken, und hier legt Christian Stückls Regie die Lücken frei in der Psychologie der Betroffenen, in ihrem unterschiedlichen Missbrauchserleben, Stück für Stück, in konzentriertem Kammerspiel, krimihaft. Die Ängste und Verletztheiten werden sichtbar, die Muster, wie jeder das zu bewältigen versucht, was nicht zu bewältigen ist.

Dass sich Missbrauch viel weiter auswirkt als nur auf die Betroffenen, zeigen die Frauen. Die Vertrauensstörung nagt an Jeskos Frau Bettina (Henriette Nagel) schon lange, dass ihr Mann in einen One-Night-Stand mit einer Lehrerin (Caroline Hartmann) flüchtet: unerbittliche Konsequenz. Konstantins Freundin (Nina Steils) kämpft verzweifelt. Ihre Idee, das Nacktbild zu posten und damit endlich das Verdrängte aufzubrechen, bringt aber den Tod. Ein intensiver, bewegender, nachhallender Abend.

Autor: Peter Eidenberger

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