Schwierige Verhältnisse – „Die Brüder Karamasow“ am Volkstheater

Christian Stückl verdichtet im Volkstheater die großen Themen aus Fjodor Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ zu einem spannenden Kammerspiel.
Ein ganz schöner Brocken, den sie sich da für die Bühne 2 des Volkstheaters vorgenommen haben. Knapp 1.300 Seiten hat Dostojewskis letzter Roman von 1879/1880, Marcel Reich-Ranicki nannte ihn mal „den besten Roman der Welt“, jede Menge Personal, es wird gerne und viel geredet, komplexe Vielstimmigkeit, polythematisch: Glauben, Ideologie, Liebe, Hass, Geld, das Böse, alles drin. Am Volkstheater ist zum Glück niemand auf die Idee gekommen, den ganzen Roman irgendwie zu bedienen, sie konzentrieren sich auf den Familienkonflikt: sechs Personen suchen Bedeutung, Antworten, Nähe. Und Geld. Aus dem breiten Epos wird spannendes Kammerspiel.
Eine große schwarze, wellige Fläche, von einem darüber hängenden Lichtkarree neonkalt beleuchtet: wie um eine Boxarena (Bühne: Stefan Hageneier) sitzen die Zuschauer, ein toller Raum (mit akustischen Tücken, wenn einem die Sprechenden gelegentlich den Rücken zudrehen.) Und Boxen: das passt zu den Fights in der Familie Karamasow in den nächsten zweieinhalb Stunden (mit Pause). Ein Fight um die eigene Bestimmung: Aljoscha (Lorenz Hochhuth), dem das Weltliche in sein Mönchsleben grätscht. Ein Fight um die Weltsicht: Iwan (Jakob Immervoll) kämpft mit ideologischen Grundsätzen. Und Dimitri (Anton Nürnberg) kämpft mit seinen Schulden und – wie seine Brüder – mit dem Vater: der arrivierte Alt-Hippie von Pascal Fligg aber badet lieber in Cognac und Selbstgefälligkeit.
Die schwierigen Verhältnisse komplett machen die von mehreren Karamasows begehrten Frauen: die laszive Gruschenka in High Heels und Leoparden-Suit (Ruth Bohsung) und Katerina (Pola Jane O‘Mara). Was mit ihnen nicht kommt, ist die Liebe. Auch ihr Kampf ist einer um eigene Interessen.
Einmal zeigt sich, was für ein großartiges Ensemble das Volkstheater hat. Mit ihm erfindet und erarbeitet Regisseur und Hausherr Christian Stückl haarspitzenpräzise Charakterstudien. Und die Typen mögen strange daherkommen, in ihren schwarz-grauen, edel zerschlissenen Schlabberklamotten, langhaarig, hohläugig, bisschen Gothic, bisschen Zombies: ihre Fragen, ihr Hadern, ihre Sehnsucht und ihr Suchen sind zutiefst menschlich und zeitlos. Ein eindrucksvoller Abend. Großer, langer Beifall – explizit auch für Janek Maudrich, der kurzfristig von einem Tag auf den anderen einspringen musste, als illusions- und humorloser Diener Smerdjakow: überzeugend.
Peter Eidenberger