Die Tatsache, dass sich immer noch so viele junge Menschen bei uns bewerben, um im Theaterberuf zu arbeiten und Theaterkünstler:innen zu werden – egal ob als Schauspieler:in, Maskenbildner:in oder Musicalsänger:in –, ist ein Zeichen dafür, dass auch die jüngeren Generationen immer noch Kontakt zu dieser Kunstform haben. Und dafür, dass die Jungen das Theater sehr schätzen.
Woran liegt das?
Theater ist ja einer der besten und wichtigsten Live-Kunstformen. Es geht darum, dass wir als Kollektiv zusammenkommen, um gemeinsam etwas zu erleben und zu reflektieren, was mit unserer Welt und unserer Gegenwart zu tun hat. Ich bin überzeugt, dass das sehr wertvoll ist. Und solche Erlebnisse sind in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit.
Wie meinen Sie das?
Es geht um diese Erfahrung, dass wir gemeinsam in einem Raum sitzen, leben, atmen, denken, klatschen, lachen, weinen, rausgehen und die Türen schlagen. All das ist etwas sehr Wichtiges. Gerade in der Corona-Pandemie haben wir deutlich gemerkt, dass uns vor allem der Live-Aspekt des Theaters schmerzhaft fehlte. Natürlich hängen wir alle gern mal zu Hause mit Netflix auf dem Sofa rum. Aber trotzdem gibt es diese Sehnsucht nach gemeinsamen Erlebnissen und Erfahrungen. Und dafür steht das Medium des Theaters – auch für jüngere Generationen.
Wie hat Sie eigentlich selbst einst das Theatervirus gepackt?
Das fing ich mir als junge Frau ein. Aber es gab kein einzelnes einschneidendes Erlebnis. Ich bin in der DDR aufgewachsen, und das Theater hatte im ostdeutschen Kulturraum eine ganz wichtige Funktion: nämlich als Live-Medium in der Lage zu sein, durch Nuancierungen in der Betonung oder bestimmte Spielweisen Dinge zu vermitteln, die dadurch die Zensur passieren konnten. Die Stasi konnte sich ja nicht in jede einzelne Vorstellung setzen. Ich habe mit 13 angefangen, alleine ins Theater zu gehen.
Ohne Eltern?
Ich bin, wie so viele Kinder damals, ohne Probleme allein nachts durch die Stadt gefahren. Und ich wusste mit 15, dass ich in dem Bereich arbeiten wollte. Ich genoss schon immer das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein. Oder den Pulsschlag zu spüren, wenn es um Konflikte der Gegenwart ging.
Ganz so selbstverständlich ist es ja nicht, dass Jüngere gleich so aufregende Theatererlebnisse machen. Oft geht es ja auch um Schwellenängste oder die Sorge, ob man überhaupt noch in den engen Konfirmandenanzug passt und ob man lange stillsitzen muss.
Klar. Aber das ist alles zum Glück nicht so wichtig. Theater kann ganz locker sein. Es ist ein wichtiger Auftrag aller Theater, mit und für Kinder und Jugendliche zu arbeiten und also unser Zielpublikum eben nicht erst ab 21 beginnen zu lassen. Es gibt erfreulicherweise schon viele Projekte und Kooperationen, etwa mit dem Bayerischen Rundfunk, die gut etabliert sind. Außerdem freut es mich, dass das Schulfach Theater beziehungsweise Darstellendes Spiel mittlerweile viel stärker in den Schulen verankert ist als das früher der Fall war. In einigen Bundesländern ist es sogar schon Abiturfach.
Die Theaterfans in der Stadt wissen, dass es hier über die August-Everding-Theaterakademie nicht nur beeindruckende Produktionen, sondern vor allem immer wieder neue, begeisterte Gesichter zu sehen gibt. Aber was sind denn das eigentlich für junge Leute, die bei Ihnen vorstellig werden, was treibt sie an, wenn Sie von einer Karriere am Theater träumen?
Erst einmal ist es interessant, wie international die Bewerber:innen sind. Sie kommen aus Island genauso wie aus Israel oder aus der Ukraine. Wer bei uns studieren möchte, hat oft schon sehr früh angefangen, sich für diese oder jene Theaterform zu interessieren. Also für Gesang oder Schauspiel. Oder eben für die großen Emotionen des Musicals. Sie bringen auch ihre eigenen Vorstellungen von Theater, von einer coolen Figur und einer neuen Erzählweise mit.
Sie sind ja besonders breit aufgestellt – von eher handwerklich geprägten Studienfächern wie Masken- oder Bühnenbildnerei bis hin zu den Opernsängern. Wo ist denn die größte Nachfrage?
Beim Schauspiel. Da bekommen wir mehrere hundert Bewerbungen auf rund zehn Studienplätze. Wichtig ist für mich, dass der Run auf unser Haus kontinuierlich stark bleibt. Ich freue mich sehr, dass wir jedes Jahr ganz viele neue Bewerber:innen haben. Was für eine tolle Stimmung, wenn die Neuen antreten!
Wenn man dann mal drin ist, dann hat man es geschafft? Oder gehen dann die Sorgen um die Zukunft erst richtig los?
Ich würde sagen: Wenn man drin ist, hat man etwas geschafft. Aber das Ziel des Studiums besteht ja nicht darin, aufgenommen zu werden. Der Eintritt in die Theaterakademie ist der Anfang für die Möglichkeit einer künstlerischen Entwicklung. Und die wird von den Lehrenden begleitet, moderiert, beobachtet und unterstützt. Wenn man aufgenommen ist, ist man ja noch kein:e fertige:r Schauspieler:in oder Opernsänger:in. Aber man erhält die Möglichkeit, sich dahin zu perfektionieren. Und künstlerisch zu wachsen.
Zuletzt hat man ja immer wieder auch ein bisschen gruselige Geschichten über fast schon feudalistisch geführte Theaterhäuser gehört. War das wirklich oft so, dass man in eine Form von kreativer Leibeigenschaft übergegangen ist, wenn man einen Theaterberuf wählt?
Dass Schauspielende auf Proben angebrüllt werden, ist leider immer noch eine Berufsrealität. Auch die Theater, die sich gesellschaftlich kritisch geben, reflektieren ihre eigenen Machtstrukturen oft noch nicht genug. Oder sie haben diese Missstände noch nicht aufgearbeitet und noch keine neuen Strukturen etabliert. So etwas anzugehen, ist auf jeden Fall eine Aufgabe für alle Kulturinstitutionen. Aber viele Theater haben diese Reformen in den jüngsten Jahren wirklich sehr ernsthaft betrieben.
Was bedeutet das für die Verantwortung mit, die Sie gegenüber Ihren Studierenden haben: Wie kann man Berufsanfänger vorwarnen oder vorbereiten?
Auch in der Theaterakademie – ich glaube bei allen Theaterhochschulen im Lande – sind Fragen nach Macht- und Geschlechterverhältnissen und die Aufklärung von Diskriminierungen sehr wichtig. Derartiges Denken bringen die Studierende mit und fordern es zu Recht ein. Deswegen ist es erforderlich, dass die Theaterhäuser und die Ausbildungsstätten solche Themen ganz früh reflektieren und demokratische, gleichberechtigte Feedback-Systeme und ein souveränes Qualitätsmanagement einsetzen, um eben genau solchen schlimmen Strukturen vorzubeugen. Für mich ist das eine zentrale Aufgabe.
Mit den jungen Studenten selbst kommt also frischer Wind von außen rein?
Ganz klar! Gendergerechte Sprache zum Beispiel ist für die Generation eine Selbstverständlichkeit. Ich habe mich gefreut, dass in der Theaterakademie auch im Bereich der Technik gegenderte Sprache durchaus eine tägliche Praxis ist. Für die nächsten Generationen wird all das völlig selbstverständlich sein. Was wir gerade erleben, erscheint wie die letzten Zuckungen eines Feuilletons, das noch immer einen vermeintlichen Untergang der deutschen Sprache wittert. Aber ich bin sicher, gendergerechte Sprache wird Normalität.
Es gibt ja vehement die Forderung, dass die gelebte Öffentlichkeit die Realität im Lande endlich gerechter widerspiegelt. Und dazu gehören dann auch Nachrichtensprecherinnen mit einer nicht weißen Hautfarbe. Wie weit sind da die Theater?
Deutschland ist genauso wie alle anderen europäischen Länder ein Land mit einer vielfältigen Migrationsgeschichte. Und die hat sich in ihren kulturellen Repräsentationen viel zu lange zu wenig niedergeschlagen. Es hat sich aber doch sehr vieles verändert in den vergangenen zehn Jahren. Der Wunsch, ein diverseres Abbild der Gesellschaft zu präsentieren, ist stark angewachsen. Das ist aber gar nicht so sehr ein Zwang von außen. Diese Bestrebungen kommen in den Theatern von innen, und man sieht Fortschritte auch in der Besetzung der Ensembles.
Diversität hat allerdings ja auch eine soziale Komponente: Muss man es sich leisten können, am Theater zu arbeiten, ist das nur ein Beruf für Bürgerkinder aus dem Speckgürtel und bestenfalls auch noch zusätzlich finanziert von reichen Erbtanten?
Ein sehr komplexes Thema, da müsste man eigentlich ein eigenes Gespräch führen. Die Frage des Klassismus betrifft die Ausbildung an einer Kunsthochschule leider genauso wie die an den Unis. Bewerber:innen aus allen sozialen Hintergründen in einem Hochschulstudium zu holen, ist für alle Fächer gleichermaßen schwierig. Die künstlerischen Fächer haben den Vorteil, dass hier weniger nach Schulnoten als nach eigenen künstlerischen Perspektiven und Fähigkeiten geschaut wird. Der Frage, wie wir noch mehr alle Kinder und Jugendliche, also alle potenziellen Bewerber:innen aus allen Schichten mit allen Sprachhintergründen sowie mit allen Interessen und möglichst breiten persönlichen Entwicklungen einbinden, müssen sich alle aufnehmenden Hochschulen und Theater-Ausbildungsstätten stellen. Eine wichtige Hausaufgabe für uns!
Wenn jemand dann zum Schluss Ihr Haus verlässt und sagt, sie oder er wird Fernsehschauspieler, sind Sie dann beleidigt?
Nö. Das gehört zum Berufsfeld dazu! Es hat sich doch längst stark verbreitert: Die Einsatzmöglichkeiten von künstlerischen Theaterschaffenden reichen vom Hörstück bis hin zum Synchron-Sprechen, vom Fernsehen, dem Film hin zu den Stadt- und Staatstheatern sowie zur Freien Szene. Wir würden einen Fehler machen, wenn wir unsere Absolvent:innen nur für die öffentlichen Theater ausbilden. Das ist überhaupt nicht das Ziel.
Bei Ihren Aufführungen dürften im Publikum ja nicht nur ganz normale Theaterbesucher sitzen, sondern ab und an auch jemand, der einen oder eine ihre jungen Künstler so stark findet, dass er sie am liebsten gleich engagieren würde. Sind Sie da auch so etwas wie die Sportdirektorin eines Fußballvereins, die dabei hilft, attraktive Spieler-Deals einzufädeln?
Bei allen Studiengängen gibt es relativ früh Kooperationen mit anderen Theatern. Teilweise auch auf Basis bestimmter Stücke. Und wir haben großes Interesse daran, dass die Studierenden schon im Rahmen ihrer Ausbildung das reale Berufsfeld kennenlernen auch anderswo auf der Bühne stehen. Tatsächlich sitzen Agent:innen und Intendant:innen in unseren Vorstellungen, was mich sehr freut. Wir laden die Caster:innen auch ein. Das kann dann wie im Fußball sein: Wer im Spiel überzeugt, erhält vielleicht sofort ein interessantes Angebot für einen Filmdreh. Das sind doch die Höhepunkte für unsere Studierenden!
Wie kommt denn der Spielplan für Ihre Veranstaltungen im Prinze und im Akademietheater zustande – und können da auch die Studierende Wünsche einbringen?
Die Struktur des Spielplans im Prinzregententheater wird im Vorlauf von mehr als zwölf Monaten geplant. Da geht es um die Frage: Welche Produktionen zeigen wir als Theaterakademie auf der großen Bühne? Das sind zwei bis drei im Jahr. Die erarbeiten wir mit unseren Leuten, teilweise in Kooperation mit externen Künstler:innen. Diese Produktionen werden im Team besprochen und von der Leitung auf den Weg gebracht. Es gibt aber auch viele kleine Produktionen – ich denke da zum Beispiel an unseren Studiengang Regie: Diese Arbeiten zeigen wir vor allen im Akademietheater, sie richten sich häufig an ein dezidiert junges Publikum. Diese Produktionen werden mehr oder weniger alleine von den Studierenden erarbeitet. Zeitgenössische junge Ästhetik möchte ich noch weiter ausbauen. Wir sind das jüngste Stadttheater oder der jüngste Ort der Freien Szene in München!
Macht Lust auf mehr: Wie schwer fällt es Ihnen eigentlich ganz persönlich, sich trotz Professorentitels und den ganzen offiziellen Anforderungen an Ihre Rolle, sich noch von der Magie des Theaters anstecken zu lassen?
Das geht für mich ganz leicht! Das ist doch der Sinn von Theater. Theater ist ein Geschenk an unsere Sinne und eine Einladung dazu, sich fallen zu lassen.
Interview: Rupert Sommer
Zwischen Theorie und viel Praxis: Barbara Gronau, geboren in Berlin, ist Universitätsprofessorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste Berlin. Seit September 2022 ist sie dort beurlaubt, um als Präsidentin die Bayerischen Theaterakademie August Everding zu führen. Das Haus ist mit acht Studiengängen und vier professionell ausgestatteten Spielstätten (Prinzregententheater, Akademitheater, Opernstudio) die größte Ausbildungsstätte für Bühnenberufe im deutschsprachigen Raum.