Roskilde-Veteran Peter Ewald über Kelly Lee Owens

Eine der Entdeckungen der letzten zwei Jahre war Kelly Lee Owens. 2020 veröffentlichte sie ihr Album „Inner Song“ und aktuell ihr Drittes, genannt „LP8“.
Beide Werke sind höchst unterschiedlich, wenn auch unverkennbar von derselben Musikerin: „Inner Song“ war eine Pop-Großtat aus dem Underground, meist etwas verhalten, aber in alle Richtungen schillernd. Aufgrund der Songstruktur funktionierte es als Listening-Album zu Hause, das zum Nachklingen-Lassen der Stücke einlud, selbst dann, wenn die Kick-Drum einmal angeworfen wurde. Neugierig machte das Album aufgrund seiner Offenheit auch darauf, wohin ein Live-Auftritt von Kelly Lee Owens wohl führen würde.
Eine Teilantwort liefert ihr neues Album „LP8“. Hier hat Kelly Lee Owens den Pop-Faktor heruntergedreht, bespielt Flächen statt Popsongs. Insgesamt wird erkennbar, wie sehr das Interesse am Experiment die Quelle ihre Musik ist. Vorherrschend ist nun die bereits in „Inner Song“ vorhandene Aufmerksamkeit für Töne und insbesondere Klangfarben. Auf „LP8“ gibt sie die Songstruktur auf und konzentriert sich auf den Klang von bestimmten Tonfolgen, die wiederholt und variiert werden. Jeder Track hat einen eigenen, speziellen Sound, dem Kelly Lee Owens ohne Ablenkung nachgeht. Das reicht von einem alten Piano bis zu einer 80‘er Jahre -Vangelis-Gedächtnisnummer, die zum Soundtrack von Blade Runner 2049 gepasst hätte.
Der Ort für diese Art von Musikerin, die ihre Vision präsentieren will, ist eine Umgebung, in der sich verschiedenen Kunstformen vermischen. Hierfür öffnet das Roskilde-Festival dieses Jahr wieder seine Bühnen. Nur an wenigen Stellen in Europa existiert ein so weiter Rahmen für Musik, Kunst, Performance und gesellschaftspolitischer Debatte auf so engem Raum. Das Roskilde-Festival hat zwar den genetischen Code eines Musikfestivals, aber die Veranstalter verfolgen die Idee von Kunst als Ausdruck einer offenen Gesellschaft – und positionieren sich in deren Grenzbereichen und gerichtet an die nächste Generation. Außerhalb des reinen Spaßfaktor werden dort auch Fragen danach gestellt, wie wir leben wollen. Das Festival-Komitee bemächtigt sich dabei bewusst und freiwillig eines Bildungsauftrags. Die Veranstalter wollen fördern, junge Musiker, junge Künstler und junge Politaktivisten.
Die Bindung der nächsten Generation ans Festival ist in Dänemark fest verankert: dort besucht man als Heranwachsender oder junger Erwachsener dieses Festival, ein Ticket als Initiationsritus. Auch hier zeigt sich, wie bewusst die Veranstaltern agieren: da das Festivals 2020 und 2021 coronabedingt ausfiel, das Festival 2022 aber deshalb schon lange ausverkauft ist, wurden Anfang des Jahres nochmals 5.000 Tickets verkauft – ausschließlich an Menschen unter 25 Jahre.
Aufgrund der Neugier und dem Interesse, daß das Festival-Komitee allen diese künstlerischen Strömungen und Entwicklungen entgegenbringt, werden auch dieses Jahr hinter dem Banner der „großen Namen“ die interessantesten Konzerte und aufregenden Künstler sich im Kleingedruckten des Line-Up der präsentieren – und unter ihnen endlich Kelly Lee Owens.
Peter Ewald ist Anwalt in München und fährt seit über 30 Jahren zum Roskilde-Festival in Dänemark.