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Meine Platte mit IN-Autor Gerald Huber

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„Calypso - Is like so …“ von Robert Mitchum und Living Colours „Vivid“
„Calypso - Is like so …“ von Robert Mitchum und Living Colours „Vivid“ © Labels

Von wegen: „Kulturelle Aneignung“ - Gerald Huber über „Calypso - Is like so …“ von Robert Mitchum und Living Colours „Vivid“

Dürfen hellhäutige Menschen Reggae, Blues, Jazz spielen? Dürfen sie Dreadlocks haben oder ihr Haar schwarz färben? Dürfen Menschen mit dunkler Hautfarbe überhaupt Klassik spielen? Dürfen sie ihr Haar glätten oder gar rot oder blond färben? Und was ist mit Menschen asiatischer, indigener oder sonst welcher Abstammung? Michael Bartle meinte dazu in seinem herausragenden Artikel auf br.de: „Die Popkultur braucht mehr von dem, was heute als kulturelle Aneignung diskreditiert wird“ und schreibt weiter: „Im Song `Punky Reggae Party´ singt Bob Marley `New Wave, New Craze´. Voller Respekt fallen die Namen The Jam, The Damned und The Clash, drei Bands, die Ende der 70er Dub und Reggae in den Punk verwurstet haben.“ Und weiter stellt er fest, dass Musik und Kultur „im besten Fall keinen Reisepass brauchen und die Hautfarbe sollte erst recht keine Rolle spielen! Duke Ellington liebte Debussy und Stravinsky und Jimi Hendrix hatte ein Faible für Bach und Bob Dylan… Beispiele gibt es ohne Ende.“

Zwei davon möchte ich hier kurz vorstellen:

Robert Mitchum: Calypso - Is like so …

Ein nostalgisches Meisterwerk. Ich liebe diese Platte. Meine Frau hat sie letztens beim Optimal auf Vinyl erstanden. Endlich! Ich liebe es wie der trinksüchtige Hollywood-Grande es sich sogar „anmaßt“ den Akzent der Menschen aus der Karibik nachzuahmen. Aber, es war ihm ernst damit, denn auf seinen Zechtouren während der Dreharbeiten zu „Der Seemann und die Nonne“ in Trinidad lernte Mitchum den Calypso kennen und lieben. Er freundete sich mit lokalen Musikgrößen wie Lord Melody und Mighty Sparrow an und sang - zudem begleitet von ihnen - ihre Songs. In Entertainment Weekly hieß es zum Re-Release des Albums auf Vinyl in 2010: „Schonungslos sexistisch in den Texten, an der Grenze zum Rassismus im Vortrag und auf brillante Weise kitschig.“ Genauso empfinde ich das, vor allem letzteres. Aber ja, ich gebe zu, dass das mit den „sexistischen“ Texten 2022 nicht mehr zeitgemäß ist, wobei diese gegen das, was die aktuelle Rap-Community so an Frauenfeindlichkeiten unters Volk ballert, eher putzig wirkt. Die „Grenze zum Rassismus im Vortrag“ ist freilich dem Umstand geschuldet, dass Mitchum den karibischen Akzent nachahmt, was ich keineswegs als Aneignung oder Sich-lustig-machen deute, sondern eher als Hingabe, Sympathie und Wertschätzung zu Land und Leuten und zum Calypso.

Living Colour: Vivid

So, hier womöglich nun ein Beispiel für die kulturelle Zurückaneignung. Living Colour, gegründet 1994 in New York, sind People Of Color und fanden sich in der progressiven Jazz- und Postpunk-Szene am Big Apple zusammen. „Vivid“ ist ein Meisterwerk des Alternative-Rock, des Crossover und des Metal, mithin also was? Musik von und für hellhäutige Menschen? Abgesehen davon freilich, dass all das Rockzeugs irgendwie ja doch vom Blues, Gospel u.a. mithin also von schwarzer Musik abstammt. Man merkt schon wie lächerlich in vielen Fällen die ganze Diskussion ist. Living Colour haben sich hier mit grandiosen Songs wie „Cult Of Personality“, „Memories Can’t Wait“ und „Middle Man“ in die Herzen aller Rock-Liebhaberinnen und Rock-Liebhaber gespielt. Unvergesslich auch das.

Was ich meine ist: Passt auf mit dieser Über-Wokeness, die im schlimmsten Fall auch von der Gegenseite (z.B. BILD vs. Winnetou) gesteuert wird, um den guten und wichtigen Ansatz - also dort wachsam zu sein, wo BiPOC wirklich kulturell und anderweitig ausgebeutet wurden, vgl. Kolonialisierung - unterminieren soll. Deswegen sollten wir die Debatte entspannter führen. Vielleicht so wie Helge Schneider („Scheißdreck“)?! In den meisten Fällen handelt es sich ja doch eher um Völkerverständigung und ist somit geradezu logisch, natürlich und wichtig. Menschen lernen voneinander, egal welche Hautfarbe sie haben. Oder ist es am Ende auch „kulturelle Aneignung“ wenn ich indisch oder mexikanisch koche? Die Diskussion ist zu 99% so überflüssig wie ein Kropf. Wir sollten sehr, sehr viel weiter sein. Wir alle sind Menschen ein und derselben Rasse, und wir alle profitieren von einem kulturellen Austausch, sei es am Herd oder in der Musik.

Autor: Gerald Huber

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