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Nachschlag von Moses Wolff zur Wiesn 2022: Verbrüderung und Verschwesterung! 

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Münchner Autor, Schauspieler und Regisseur: Moses Wolff
Münchner Autor, Schauspieler und Regisseur: Moses Wolff © Privat

Ich gebe es ehrlich zu: mir ist die Wiesn enorm wichtig und ich freue mich unglaublich, dass sie wieder stattfinden wird! Normalerweise weine ich traditionell nur einmal während der fünften Jahreszeit, nämlich beim Zapfenstreich, wenn die Cagey Strings „Sierra Madre del Sur“ auf der Empore meines geliebten Hackerzeltes anklingen lassen. Es sind Tränen der Zuneigung, Tränen der Dankbarkeit und Tränen des Glücks.

Ähnlich wird es heuer bereits beim Anstich sein: ich werde vermutlich minutenlang fassungslos vor meiner ersten Maß sitzen, ohne davon zu trinken, weil ich es einfach nicht glauben kann. Dann nehme ich den ersten Schluck und – das kann ich nicht oft genug betonen – augenblicklich wird jahrhundertealtes Urwissen in mich hineinfließen.

Oktoberfestbier reinigt die Seele, befreit von Sorgen, Ängsten und Trübsinn. Zudem fördert es den Übermut, die Freude am Schmusen und die Zufriedenheit. Außerdem werden durch den ungezügelten Genuss dieses kostbaren Getränkes Glückshormone ausgeschüttet, beispielsweise Serotonin. Hierdurch wird der Mensch sowohl gelassen als auch euphorisch – eine großartige Mischung! Es gibt meines Wissens keinen Ort auf der Welt, an dem sich einige hunderttausend Leute gleichzeitig in jener mystischen Hochstimmung befinden. Dies ist eines der zahlreichen Geheimnisse des größten und schönsten Volksfests der Welt.

Liebe Unkenrufer, Empörer und Berufseingeschnappte: gönnt uns doch bitte diese paar Tage

Moses Wolff

Mein Herz hat frohlockt, als im Frühjahr entschieden wurde, dass die Wiesn ohne Einschränkungen stattfinden wird. Erwartungsgemäß meldeten sich sofort die Siebengescheiten zu Wort und forderten sich einen ab. Allerdings, werte Mahner und Zweifler: „keine Einschränkungen“ heißt ja nicht umsonst „keine Einschränkungen“. Vieles bleibt wie gewohnt, ein bisserl was ändert sich. Heizstrahler werden zugunsten der Umwelt abgeschafft, manche Fernsehsender und Festwirte wechseln die Bierzelte. Der Bierpreis wird übrigens trotz der exzellenten Bierqualität, des phänomenalen Unterhaltungswertes und der vollkommenen Stimmung wieder nur um ein paar Cent erhöht.

Die Wiesn ist unter anderem ein Fest der Verbrüderung und Verschwesterung, wie mein Freund Ottfried Fischer sagen würde. Deshalb sollte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt werden. Wie schön wäre es, nach dem Anstich in der Hausbox des Schottenhamel zu sehen, wie Dieter Reiter und Markus Söder Arm in Arm beisammensäßen, scherzten und über alte Zeiten plauderten. Söder tränke das erste Mal in seinem Leben kein kalorienfreies amerikanisches Koffeinkracherl, sondern könnte endlich charaktervoll und glaubhaft zeigen, dass er dazu steht, Bayer zu sein. Bei jedem Schluck Wiesnbier wirkte er ehrlicher und authentischer, sogar Ansätze von Humanismus und Milde wären in seinem Antlitz erkennbar.

Er würde sich beim OB dafür entschuldigen, dass er und andere es gewagt hatten, dem Münchner Oberbürgermeister Anfang des Jahres ihre Meinung über das Oktoberfest „ungefragt mitzuteilen“. Reiter würde väterlich lächelnd beteuern, dass er dies in einem Moment der inneren Anspannung bemängelt habe, und es ja als Oberbürgermeister schließlich seine Aufgabe sei, sich die Anliegen des Volkes anzuhören. Beide blieben lange sitzen und feierten jedes „Prosit der Gemütlichkeit“, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht wird diese Szene ja real.

Auf dem Oktoberfest ist vieles möglich. liebe Unkenrufer, Empörer und Berufseingeschnappte: gönnt uns doch bitte diese paar Tage, freut Euch für und gerne mit uns über all die Pracht, die Wirtinnen und Wirte, Schaustellerinnen und Schausteller, Fischsemmelstandbetreiberinnen und Fischsemmelstandbetreiber, Kioskbetreiberinnen und Kioskbetreiber, Ochsenbraterinnen und Ochsenbrater, Zapferinnen und Zapfer, Sicherheitsmitarbeiterinnen und Sicherheitsmitarbeiter, Sanitäterinnen und Sanitäter, Köchinnen und Köche, Servicedamen und Serviceherren, Polizistinnen und Polizisten, Schnapsverkäuferinnen und Schnapsverkäufer und all die bunten Menschen aus aller Welt, die das Oktoberfest so einzigartig und wunderbar machen!

Auf eine friedliche Wiesn!

Moses Wolff ist Münchner Schauspieler, Regisseur und Autor des einzig vernünftigen Oktoberfest-Handbuchs „Ozapft is“ (Piper). Erhältlich in jeder guten Buchhandlung oder im Internet

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