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Nachschlag von Moses Wolff: Urbanes Tierleben

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Münchner Autor, Schauspieler und Regisseur: Moses Wolff
Münchner Autor, Schauspieler und Regisseur: Moses Wolff © Privat

Lustig tummeln sich flauschig weiche Ratten um den Münchner Hauptbahnhof und laben sich an Speiseresten, die umweltbewusste Touristen vor einigen Wochen achtsam auf den Boden gelegt haben, damit sie die umliegenden Abfallbehälter nicht überlasten. Die oft noch halbvollen Pommestütchen und Cheesburgerverpackungen wehen appetitlich im Wind und werden ab und zu von den „Ratzn“ auf Tauglichkeit überprüft. Das Fell der Tierchen ist wollig und lädt zum Streicheln ein. Um das Stadtbild nicht zu verfälschen und etwas „Street Credibility“ zu bewahren, hat die Deutsche Bahn mit Einverständnis der Münchner Stadtverwaltung gerade in der Bahnhofsgegend den Einsatz von Reinigungskräften bewusst reduziert, auch, um es allen Bürgerinnen und Bürgern zu ermöglichen, unkompliziert an Nahrungsmittel zu kommen. Hier findet das echte Leben außerhalb einer konsumgeprägten Elite statt; hier treffen sich Akademiker, Aussteiger, Outlaws, aber auch ehemalige Manager, die keinen Bock mehr auf den ganzen Firlefanz hatten; hier werden hitzige Diskussionen über Identität geführt, von denen manche Kreise nicht mal zu träumen wagen.

Behaglich tummeln sich Gestalten jeden Alters um den Vorplatz und lassen sich beim Verweilen auf den Steinstufen den Vortritt, einige genießen die Wirkung wohltuender Nahrungsergänzungsmittel und anderer hochwertiger wirkungsvoller Präparate. Erlesene alkoholische Getränke und Rauchwaren werden konsumiert, heitere Gespräche um dies und jenes entstehen, bald im Flüsterton, bald in energischer Lautstärke. Es herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Wer würde da nicht gern mal „Mäuschen“ spielen?

Eine tolle Lösung, damit die Vorurteile bahnreisender Besucher von einer glattgebügelten, faden, sauberen und sterilen bayerischen Landeshauptstadt nicht bestätigt werden; und gleichzeitig penibel darauf geachtet wird, dass neben Ratten und anderen putzigen Nagern auch weitere seltene Tierarten wie Wanzen und Salmonellen nicht vom Aussterben bedroht sind. Um Eiligen den umständlichen Weg in den Tierpark Hellabrunn zu ersparen, wurde auch an Tauben nicht gespart. Die graugefiederten Friedensboten flattern traut über das Pflaster, und machen selbst vor kurzen Stippvisiten auf den S-Bahngleisen nicht Halt.

Orthopäden empfehlen ja das Stehen, sodass in der Bahnhofshalle bewusst wenig Sitzgelegenheiten vorhanden sind

Moses Wolff

Geht es um den „ersten Eindruck“, lässt sich die Bahn nicht lumpen und wirkt unterstützend und fürsorglich. Vermutlich gab es etliche langwierige Besprechungsrunden, bis entschieden wurde, dass es „Neuankömmlingen“ nicht zuzumuten sei, Gastlichkeit oder sonstige unzeitgemäße Steinzeitangelegenheiten bei Ankunft mit der Bahn in der Weltstadt mit Herz vorzufinden. Orthopäden empfehlen ja schon seit einer halben Ewigkeit das Stehen für gesunde Haltung und Entlastung der Wirbelsäule, sodass in der Bahnhofshalle zum Wohle aller bewusst wenig Sitzgelegenheiten vorhanden sind. An den diversen Essensständen erworbene Speisen können durch diese Maßnahme gesundheitserhaltend stehend oder gehend verzehrt werden, bzw. in Einzelfällen gemütlich auf den manchmal im Bahnsteigbereich vorhandenen Bänken oder Metall-„Sesseln“.

München ist eine reiche Stadt und leistet sich Aushängeschilder wie Baustellen, auf denen man quasi niemals Bauarbeiter zu sehen bekommt, Ampeln an Hauptverkehrskreuzungen, die nur für wenige Sekunden „ergrünen“ und somit den Benutzern des öffentlichen Nahverkehrs das ökologisch wertvolle Fahren mit Bus und Tram entschleunigen. So entsteht ein nicht zu unterschätzender Mehrwert beim Betrachten von Sehenswürdigkeiten, beispielsweise dem dauerhaften „Hingucker“-Erneuerungs-Bauprojekt am Sendlinger Tor samt den pittoresken rot-weißen Absperrplanken, die sich harmonisch ins urbane Ambiente einschmiegen. Dank jener ausgeklügelten Ampelschaltung wird die Fahrt auf angenehme Weise verlängert und erlaubt es Fahrgästen im öffentlichen Personennahverkehr, untereinander angeregte Konversationen zu führen. Wer weiß, wie viele künftige Pärchen sich hierdurch kennengelernt und möglicherweise bereits Familien gegründet haben? Und hier schließt sich der Kreis, denn was wäre eine Familie ohne Haustier?

Aus diesem Grund bietet nicht nur die Deutsche Bahn, sondern auch die Stadt ungeschmälerten Schutz sämtlicher Tierarten in Haus, Park und Bahnhofsgebäuden. Dieses vorbildliche Modell macht inzwischen in halb Europa Schule. Kaum ist die Pandemie samt jenen verstörenden Bildern von Tier-Märkten in Hong Kong halbwegs verarbeitet, hat die EU-Kommission Insekten als nachhaltige Eiweißquelle zum Verzehr freigegeben! Früher oder später wird am Imbiss-Stand vermutlich neben Ketchup, Senf, Majo, „Scharf“, Salz und Pfeffer auch Heuschreckenpulver als Würzmittel bereitstehen. Der einst in Witzblättchen verwendete Satz: „Herr Ober, da ist eine Fliege in meiner Suppe“ darf in naher Zukunft auch als freudig überraschte Danksagung für den „Gruß aus der Küche“ verwendet werden. Der natürliche Entwicklungsprozess wird es uns ermöglichen, dass im bayerischen Biergarten zu einer frischgezapften Maß neben Obazdn, Wurstsalat und Brezn auch Wanderrattenschnitzel, gegrillte Grillen, überbackene Grashüpfer, frittierte Heuschrecken, panierte Larven, geschmorte Würmer und aufgeschmalzte Kellerasselsuppe angeboten werden.

Guten Appetit!

Moses Wolff ist Münchner Schauspieler, Regisseur und Autor des neu erschienenen Romans „Gendarm des Königs“ (Hirschkäfer). Ein Buch über Ludwig II., Diversität und Isolation. Erhältlich in jeder guten Buchhandlung oder im Internet. 

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