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Nachschlag von Moses Wolff: Dekadenz, Qualität und Beliebigkeit

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Von: Andreas Platz

Münchner Autor, Schauspieler und Regisseur: Moses Wolff
Münchner Autor, Schauspieler und Regisseur: Moses Wolff © Privat

Der Begriff „Qualität“ kann sowohl subjektiv, als auch objektiv wahrgenommen werden. Bei Produkten oder Lebensmitteln kann die Qualität anhand der nachweisbaren Güte der Inhaltsstoffe oder der Herstellung festgelegt werden, daher gibt es Begriffe wie Qualitätsschinken, Qualitätswein oder Qualitätspapier. In anderen Bereichen ist die Definition eher subjektiv, daher sagt man selten „Qualitätsarzt“ oder „Qualitätsschriftstellerin“. Allerdings stelle ich in den letzten Jahren fest, dass die Menschen auf der einen Seite extrem hohe Ansprüche an Körperpflegeprodukte, Nahrungsmittel und gestreamte Serien legen, auf der anderen Seite aber freiwillig und fast schon wahllos auf Güte verzichten und offensichtliche Dekadenzen widerstandslos in Kauf nehmen.

Beispielsweise wurde vor einem Jahr die Ortskundeprüfung für Münchner Taxifahrer abgeschafft. Das heißt, alle Leute, die einen Führerschein besitzen, dürfen ein Taxi lenken und Fahrgäste in der Gegend herumkutschieren. Das ist natürlich ein enormer Magenschwinger für all diejenigen Fahrer, die ihren Beruf aus Passion betreiben und leidenschaftliche Dienstleister sind. Steige ich heute in ein Taxi, kann es sein, dass ich eine Fahrerin mit jahrzehntelanger Erfahrung und Liebe zu ihrer Tätigkeit finde, die sämtliche Schleichwege, Baustellen und Kniffe kennt und den Luxus einer Taxifahrt durch Kenntnis und Professionalität rechtfertigt. Es kann aber ebenso passieren, dass ich einen Fahrer antreffe, der ständig scharf abbremst, sich Null auskennt in der Stadt, nur nach einem für mich nicht zwangsläufig nachvollziehbaren Navigationssystem herumkurvt und währenddessen mit Kumpels private Telefonate führt.

Was sich die Entscheider dieser Neuerung gedacht haben, weiß niemand. Vermutlich gab es Klagen wegen Wettbewerbsfreiheit und zu viel Uber-Konkurrenz, aber es ist schon eine Riesen-Respektlosigkeit und noch dazu eine fragwürdige Botschaft an die Fahrgäste: zahlt für eine Wohlstands-Leistung, aber gebt Euch gefälligst in jedem Fall mit dem Ergebnis zufrieden, der Zufallsgenerator entscheidet. Es heißt ja nicht automatisch, dass Taxifahrer ohne abgelegte Ortskundeprüfung automatisch schlechter sind, aber es geht schließlich nicht nur darum, ob mich irgendjemand von A nach B bringt, sondern um die QUALITÄT der Fahrt. 

Einem E-Scooter sieht man schon auf den ersten Blick an, dass es vermutlich böse Verletzungen zur Folge hat, wenn es einen schmeißt.  

Moses Wolff

Apropos von A nach B in Zusammenhang mit Qualität und Beliebigkeit: Menschen folgen gerne Strömungen und Moden, sie schwirren wie Insekten zu jeder blinkenden oder strahlenden Lichtquelle, und sei sie auch noch so dämlich. Einem E-Scooter sieht man schon auf den ersten Blick an, dass es vermutlich böse Verletzungen zur Folge hat, wenn es einen schmeißt. Deshalb fahren die Leute ja häufig zu zweit damit herum. Alle reden von Energiesparen, aber genauso viele nutzen diese stromfressenden Teile. Und dann stellen die schwachköpfigen Nutzer die Roller so hin, dass man fast darüber fällt. Das ist wohl so eine Art rebellischer, selbstbewusster Ausdruck von moderner Anarchie, in Wahrheit ist es allerdings degenerierte Infantilität. E-Scooter fahren bedeutet, allen anderen den Mittelfinger zeigen und zu sagen: „Ich fahre mit einem höchst fragwürdigen Gefährt herum, lasse noch Hinz und Kunz zu mir mit aufsteigen, gefährde damit mich und andere Verkehrsteilnehmer, verbrauche dabei wertvolle Energie und sorge nach Beendigung meiner Fahrt noch dafür, dass sich Leute über die absichtlich im Weg herumstehenden Roller ärgern und am besten noch darüber stürzen!“

Das wäre ja genau so, als gäbe es Menschen, die, wenn sie eine neue Hose benötigen, nicht in ein Fachgeschäft flanierten und dort eine ordentliche Beratung samt Anpassung erhielten, sondern sich sieben Hosen verschiedener Passformen, Macharten und Größen im Internet bestellten, alle anprobierten und die nicht passenden Kleidungsstücke auf Kosten des Versenders zurückzuschicken. Das wäre an Dekadenz und Beliebigkeit kaum zu übertreffen. Zum Glück macht das ja niemand. Sonst hätte ich den Glauben an die Menschheit längst aufgegeben.

Moses Wolff ist Münchner Schauspieler, Regisseur und Autor des neu erschienenen Romans „Gendarm des Königs“ (Hirschkäfer). Ein Buch über Ludwig II., Diversität und Isolation. Erhältlich in jeder guten Buchhandlung oder im Internet. 

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