Nachschlag von Moses Wolff: Bequem von Zuhaus

Für wen wurden eigentlich die neuen S-Bahnen gebaut? Überwiegend für Kleinkinder vermutlich. Anders lässt es sich nicht erklären, dass zwei Erwachsene dort kaum gegenübersitzen können, ohne dass zumindest die Knie sich berühren. Da die verantwortlichen Planer und Ingenieure wohl davon ausgegangen sind, dass Kids die Gepäckablagen über den Köpfen der Fahrgäste eh nicht erreichen können, wurden diese praktischerweise bei den neuen Fahrzeugen weggelassen. Jetzt gibt es weniger Sitzplätze, dafür aber riesige Aussparungen am Boden, wo theoretisch gigantische Schrankkoffer hingestellt werden könnten. Und Eckbänke, auf denen maximal drei Kinder oder zwei Erwachsene Platz haben. Hier wurde materialsparend und umweltfreundlich gedacht, dass nur Menschen, die sich sehr nahestehen, dort nebeneinander Platz finden. Großgewachsene dürfen sich an gemütlichen Polstern anlehnen. Logischerweise ist in der S-Bahn auch der Verzehr von Bier nicht mehr gestattet. Die Hauptstadt des Bieres mit inzwischen sieben großen Brauereien (das Giesinger Bräu kann inzwischen Grundwasser schöpfen und ist damit offizielle Münchner Brauerei und wiesntauglich) verwandelt sich mehr und mehr in eine Hauptstadt des „Coffee to go“.
Um gesteigerten Leistungswillen und Qualitätsbewusstsein zu suggerieren, gibt es ständig Ansagen, die während Gesprächspausen der Vieltelefonierer durch die Lautsprecher dröhnen. Die meisten Leute haben ohnehin Kopfhörer auf und lassen sich von wummernden Beats berieseln. Da ich Moses bin, kenne ich das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Das hat der HERRGOTT gesagt. Jahrtausende hat sich das Volk daran gehalten. Bis es Smartphones gab.
Heutzutage dreht sich jeder nur noch um sich selbst. Riesel, riesel, äh, Moment, kurz checken, ob mir jemand auf einem der zahlreichen Nachrichtenportale, von denen ich nur ganz bestimmte nutze, damit meine Daten geschützt bleiben, etwas geschrieben hat. Nein? Dann schau ich mal eben nach, ob „Narziss“ mit scharfem ß geschrieben wird. Nö. Gut, das hätten wir. Was für einen Song könnte ich als nächstes hören? Robbie Williams? Helene Fischer? Bum, bum, tralalala. Hat mir jetzt endlich jemand geschrieben? Immer noch nicht! Mist! Wie viele Schritte bin ich heute schon gegangen? App aufmachen, oh, ich habe guten Puls. Was wollt ich nochmal? Ach ja, Schritte prüfen. Erst dreitausendvierhundert. Ich sollte vielleicht in Laim aussteigen und zu Fuß nach Pasing laufen. Aber dann versäume ich die Öffnungszeiten von dem Shop, wo seit Tagen mein Päckchen liegt, das ich kürzlich bestellt habe.
Das Giesinger Bräu kann inzwischen Grundwasser schöpfen und ist damit offizielle Münchner Brauerei und wiesntauglich
Heutzutage wird alles so vereinfacht. In Ruhe auf der Couch im Tablet was aussuchen, anklicken, per paypal bezahlen, Kontostand wurscht. Paypal garantiert für Datenschutz, das ist wirklich optimal! Manchmal findet sich bereits nach wenigen Stunden eine Benachrichtigung im Briefkasten, obwohl man den ganzen Tag zuhause war. Das ist sehr rücksichtsvoll von den Boten, dass sie die Privatsphäre nicht stören möchten. Außerdem sieht man durch die Fahrten in entlegene Paketshops endlich mal wieder etwas von der Stadt. Ein kleiner Ausflug hat noch niemandem geschadet.
Es piept im Kopfhörer. Eine Textnachricht: „Wo bist du?“ Nanu? Wer zappelt denn da mit den Händen vor meinem Gesicht herum? Eine Unverschämtheit! Oh, es ist ein Team von Fahrkartenkontrolleuren. Ich habe doch mit meiner App die Fahrkarte gekauft, oder? Nein, doch nicht. Es war zu viel anderes los. Der Kontrolleur sagt freundlich und mit sonorer Stimme: „Das erhöhte Beförderungsentgelt beträgt 60 Euro, bezahlbar innerhalb von 14 Tagen per Überweisung oder in einer der ÖPNV-Stellen im Herzen der Stadt.“ Immerhin kann ich das Geld bequem von Zuhaus überweisen. Auf meiner Couch. Wenn ich wieder von meinem Ausflug zum Paketshop zurück bin. Wir leben in einer Welt voller Annehmlichkeiten. Strahlend überreiche ich dem Kontrolleur meinen Personalausweis, damit er meine Daten erfassen kann.
Moses Wolff ist ein Münchner Autor, Regisseur und Schauspieler. Er steht fast jeden Sonntagabend im Schwabinger Vereinsheim mit Christoph Theussl und Gästen bei der Schaumschlägershow auf der Bühne. Privat ist er in Innenstadtwirtshäusern und im Stehausschank der Giesinger Brauereimanufaktur am Viktualienmarkt anzutreffen.