Barbara Mundel: Die Theateraufführungen finden in den Münchner Kammerspielen statt. An zwei Wochenenden verdichtet sich das Festival. Bei einer „Assembly“, einer Versammlung, kommen vom 20. bis 22. April Kunst und Diskurs zusammen, ein Teil findet bei uns und ein Teil in der Monacensia statt.
Buettner: Alles verschränkt sich auch inhaltlich. Die Schriftstellerin Franziska zu Reventlow spielt in der Auftaktpremiere „Anti War Women“ eine große Rolle. Wir haben ihren Nachlass, und Franziska zu Reventlow hat natürlich in unserer laufenden Ausstellung „Frei leben! Die Frauen der Boheme“ eine tragende Rolle. Sie war auch schon in der Kammerspiele-Produktion der „Bayerischen Suffragetten“ dabei. Es ist also ein fließender Prozess zwischen unseren Häusern.
Anke Buettner leitet seit 2019 die Monacensia, das literarische Archiv der Stadt im Hildbrand-Haus in Bogenhausen. Barbara Mundel ist seit der Spielzeit 2020/21 Intendantin der Kammerspiele. Beide vereinen schon länger gemeinsame Projekte und ein Anliegen: ihre Häuser stärker zu öffnen und in die Stadtgesellschaft hinein wirken zu lassen. Das gemeinsame Festival „Femal Peace Palace“ läuft bis 23. April. Mehr Infos hier.
Was treibt Sie an?
Buettner: Wir wollen uns aus unterschiedlichen Perspektiven mit diesen Geschichten auseinandersetzen, die eben nicht erzählt und oft bislang nicht bekannt sind.
Mundel: Es sind Geschichten ungewöhnlich starker Frauen, die brach liegen und zum Teil im Archiv stecken.
Sie beziehen sich mit dem Festival ja auf ein historisches Datum, von dem viel zu wenige wissen dürften, dessen Brisanz in Zeit von Krieg und Krisen aber akuter nicht sein könnte: den „Ersten Frauenfriedenskongress“ 1915 in Den Haag. Was macht ihn denn so bedeutsam und die Frauen, auch die Münchnerinnen, die damals daran teilnahmen so mutig? Und warum ist er bislang so selten echtes Gesprächsthema?
Buettner: Vermutlich weil es eher unüblich ist, historische Ereignisse, an denen viele Frauen teilgenommen haben, überhaupt wahrzunehmen. Solche Themen kommen ja oft weder in der Geschichtsschreibung noch dann im Schulunterricht vor. Das verbindet uns und unsere Häuser: Wir wollen gemeinsam eine Art feministische Geschichtsschreibung befördern. Und wir wollen Impulse setzen, die an Ereignisse erinnern, die sich außerhalb der patriarchalen Geschichtsschreibung ereignet haben.
Was meinen Sie damit genau?
Buettner: Wir wollen uns nicht mit Fragen beschäftigen wie: Wo hat welcher Krieg stattgefunden und wer hat wen besiegt? Wir wollen uns damit beschäftigten, wie man sich mit Krisen arrangiert, wie man Konflikte bewältigen kann oder besser noch, wie man sie gar nicht erst entstehen lässt.
Und wie könnte das gehen?
Buettner: Indem man zusammenarbeitet oder indem man versucht, in einer anderen Form von sozialen oder gesellschaftlichen Utopien zu leben. So ein Gegenentwurf war der Frauenfriedenskongress. Er war in dieser Form wirklich überwältigend. Weil mitten im Ersten Weltkrieg sehr viele Frauen unter schwierigen Umständen nach Den Haag gefahren sind, um sich dort intensiv damit auseinanderzusetzen, wie dem Elend ein Ende gesetzt werden könnte. Sie formulierten dann ganz konkrete Forderungen an die Regierungen. Sie gingen davon aus, dass es für langfristigen Frieden andere demokratische Strukturen braucht. Dabei stellen sie stellten fest, dass Männer und Frauen unterschiedlich von Kriegsgräueln betroffen sind und entsprechend auch Gewalt geschlechtlich konnotiert ist. Sie sprachen sich 1915 klar gegen Vergewaltigungen als Kriegswaffe aus. Wo stehen wir da heute?
Mundel: Man kann es auch sehr hart formulieren: Viele Protagonistinnen der feministischen Friedens- und Frauenrechtebewegung in München sind durch die Nationalsozialisten ermordet worden oder mussten ins Exil gehen. Deshalb sind diese emanzipatorischen Traditionslinien in Deutschland fast komplett verschwunden. Wir haben in den 50er Jahren in Deutschland bei den Kontinuitäten des Nationalsozialismus angeknüpft. Wenn man in die Biografien dieser Frauen einsteigt, merkt man schnell: Ganz viele von ihnen wurden mundtot gemacht – mit den unterschiedlichsten Mitteln.
Sie führen für die Kammerspiele gerne die Maxime an, sich zu erinnern sei aktive Arbeit an der Gegenwart. Mitten im schlimmsten kriegerischen Konflikt wäre doch auch so ein echter Friedenskongress dringend wünschenswert. Warum ist es so schwer, das zu schaffen? Allein die Logistik, sich damals überhaupt zu verständigen, muss ja enorm schwierig gewesen zu sein. Wie viel leichter müsse das ein digital eng vernetzen Zeiten fallen.
Mundel: Wie die Frauen das damals über alle Landesgrenzen hinweg geschafft haben, ist mir tatsächlich ein Rätsel.
Und was kann da Ihr Festival heute leisten?
Mundel: Wir wollen die Menschen ermutigen, genau hinzusehen und auch in der Geschichte Verbündete zu finden. Damals haben die Frauen es geschafft, über die Feindes- oder Nationalgrenzen hinweg transnational miteinander zu streiten und zu reden. Ich finde, das ist es, was heute nicht passiert!
Es gibt ja Aufrufe und Demonstrationen.
Mundel: Bei dem einen Friedensaufruf aktuell von Sahra Wagenknecht oder Alice Schwarzer kann ich genau diese übergreifende, über Ländergrenzen hinausgehende Perspektive nicht erkennen. Mit wem zusammen machen wir denn einen Friedensaufruf? Der kann doch nicht alleine aus Deutschland kommen. Wir müssen das zusammen mit Ukrainerinnen, Russinnen und Belarussinnen transnational machen. Sonst ist das wohlfeil. Auf dem Frauenfriedenskongress 1915 war man da weiter.
Buettner: Es gab damals konkrete Pläne, wie die Resolutionen an die Regierungen herangetragen werden sollten. Delegationen suchten die einzelnen Regierungen auf und übergaben die Forderungen. Sie haben mit Nachdruck versucht, die Mächtigen nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Mit unserem Festival versuchen wir den Gedanken zum länderübergreifenden Dialog aufzunehmen: Wir arbeiten sehr vernetzt. Die Kammerspiele bringen ihr breites internationales Netzwerk ein. Aber auch wir arbeiten mit vielen anderen Archiven, Museen und Sammlungen zusammen. Wir wollen gemeinsam ein Zeichen für die Vielfalt von Perspektiven und den respektvollen Austausch von Meinungen setzen. Es geht uns um Debattenkultur: Man kann miteinander reden. Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern kommen miteinander und mit dem Publikum hier und wiederum in anderen Städten und Ländern in Verbindung. Deswegen ist uns auch der Open Call so wichtig.
Sie meinen Ihren Aufruf, sich mit Beiträgen an Ihrer „Assembly“ zu beteiligen?
Buettner: Aktivistinnen können mit einem Reisestipendium nach München kommen. Female Peace Palace ist kein konsumistisches Festival, zu dem man geht, sich eine der vier Inszenierungen ansieht, die künstlerischen Interventionen ansieht, eine historische Einführung anhört – und sich hinterher eingehend belehrt fühlt oder betroffen. Darum allein kann es ja nicht gehen: Uns interessiert das, was nach dem Festival bleibt. Wir hören danach nicht auf, uns mit diesen Themen zu beschäftigen und bleiben in Kontakt mit den Beteiligten. Wir wollen die feministisch-pazifistischen Gedanken weitertragen!
Mundel: Ich finde es witzig, dass es bei unserer „Assembly“ um eine Versammlung und um Verhandlungen geht. Im Moment erfahren wir eher: Es kommt zu großen Enttäuschungen und zu einem beleidigten Abwenden, auch von der Demokratie. Das Aushalten von demokratischen Aushandlungen ist ein sehr schmerzlicher, komplizierter und langwieriger Prozess. Dafür braucht es Räume, nicht in den sozialen Medien.
Wenn man zurückblickt, war es nicht immer selbstverständlich, dass zwei Kultureinrichtungen wie die Ihrigen, überhaupt die Fühler in die Stadt ausstrecken und miteinander kooperieren. Was hat zu der Entdeckung geführt, dass man aus dem Monacensia-Archiv heraus Funken für die Gegenwart entzünden kann?
Mundel: Das ist genau die Idee: Was für Funken kann man aus der Begegnung schlagen? Kooperationen ergeben für mich immer dann Sinn, wenn dadurch ein neuer, dritter Raum entsteht. Wir bringen zusammen, was die eine hat und die andere nicht. Und aus dem Gemeinsamen entsteht ein Gedanke. Immer da, wo es inhaltliche Verbindungen gibt, finde ich solche Kooperationen großartig. Wir könnten dieses Projekt sonst gar nicht stemmen.
Wieso?
Mundel: An den Kammerspielen haben wir keine Expertise für historische Forschung und Wissenschaften. Wir haben kein eigenes Archiv, das liegt im Theatermuseum, zum Teil im Stadtarchiv etc. Ich finde das Projekt der „Female Heritage“ und das Aufspüren im literarischen Gedächtnis der Stadt, für das die Monacensia steht, eine sehr interessante Begegnung. Es ist beeindruckend, wie viele Schätze und Stimmen es dort zu entdecken gibt!
Muss man eigentlich spiritistisch veranlagt sein?
Buettner: Absolut!
Sprechen die Archivschätze und Konvolute zu Ihnen und buhlen um Ihre Aufmerksamkeit, wenn Sie ab und an nachts durch die Sammlung schleichen?
Buettner: Sie sprechen aus der Wand. Ich sehe dann flammende Schriften. Aber im Ernst: Wir haben ein Interesse. Wir wollen den Stadtraum wahrnehmen und für uns ausdehnen.
Was heißt das?
Buettner: Es geht darum, welche Themen wir gemeinsam haben, welche Menschen wir erreichen und welche noch nicht. Wir müssen uns als Kulturinstitution doch der Frage stellen: Wen bilden wir eigentlich ab – auf unseren Bühnen, in unseren Archiven? Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann Brücken schlagen und Themen für die Gegenwart erschließen. Theater hat einen anderen Blickwinkel. Es kommt oft aus der körpergebundenen Beschäftigung mit den Themen. Wir bringen die eher schriftgebundenen Erinnerungen ein. Beides geht gut zusammen! Immer wieder kommen auch Schauspielerinnen oder Dramaturginnen zu uns und fragen uns, was wir zu bestimmten Themen im Archiv haben. Wir fangen dann gemeinsam an zu suchen und sind meistens selbst sehr erstaunt, was wir finden.
Mundel: Die Art, wie wir zusammenarbeiten, ist nicht formalisiert, sondern wirklich kreativ und produktiv. Wir tauschen uns aus, und es gibt bereits Ideen für die Zukunft. Und schon passieren wieder neue Dinge.
Interview: Rupert Sommer