Wie avancierte ein läppischer Gschaftlprimat aus der tierischen Mittelschicht zum Chefmacker und Powerdisser der Erde? Ein Projekt, dessen wachsender Erfolg zugleich seine Doomability beschleunigte. Philipp Bloms klimawandelwärmstens empfohlene Spurensuche folgt dem von männlicher Anmaßung dominierten Legitimationsaspekt, beginnend beim Gilgamesch-Epos über die Bibel bis zur Aufklärung, die sich anfangs noch mit der Bibellogik arrangierte, doch zusehends von ihr löste und schließlich den erfundenen Bibelgott durch einen pseudowissenschaftlichen und pseudoempirisch gefütterten Auftrag ersetzte. Und wo bitte ist der Exit aus der selbst gebauten Falle? Eine Veränderung, da treffen sich Blom und Chomsky, beginnt, wenn wir anders auf die Welt blicken. Blom erklärt dies am Beispiel einer Landkarte, die Grenzen weniger Bedeutung beimisst als wechselseitigen „Abhängigkeiten und Konversationen“. In der Vertreibung aus dem Fakeparadies der Unterwerfungsherrlichkeit sieht der Autor eine Befreiung aus ihrer längst zum Diktat gewordenen Eigendynamik. Die Konsequenz: Will die Spezies Mensch überleben, muss sie ihre Präsenz in der Welt minimieren und sich endlich als gleichwertigen Teil begreifen - neben anderen Tieren, Pflanzen und Mikroben.
Autor: Jonny Rieder
Es ist der alte, nachvollziehbare Traum davon, ein anderes Leben zu leben. Andrea, ein junger Kunstlehrer aus Italien, hat ihn für sich gleich mehrfach in die Tat umgesetzt. Glücklich geworden dabei? Schwierige Frage. Es ist eine Unruhe, eine Unbehaustheit, eine latente Angst, sich dauerhaft zu binden, die ihn immer wieder wegtreibt – raus aus dem geordneten, faden Bürgerdasein, rein ins zerbrechliche neue Glückskonstrukt. Aber auch in die Lebensgefahr. Schon zu Studentenzeiten hatte er in New York gelebt. Und sich verliebt, nicht nur in die Stadt. Dann löst er wieder ein Flugticket, lässt seine Ehefrau lange bei der Illusion, dass es nur ein Kurztrip ist. Und kehrt dann nicht zurück. In Manhattan gibt es einen Fluchtpunkt, auf denen seine Wanderrouten immer wieder zielen – den Rembrandt-Saal im Metropolitan Museum of Art. Zum Gemälde vom Verlorenen Sohn, in das er eintauchen und dort Halt finden kann. Doch dann verliert er sich selbst wieder, landet auf der Straße, ohne Dokumente auf dem ItalienHeimflug – und wenige Monate später auf der Todesroute über den Grenzzaun von Mexiko zurück in die USA. Ein Reisender, dem man ein Ankommen wünscht. Und ein Roman, der lange für Ruhelosigkeit sorgt. Die Gedanken wandern. Gut so. Bleibt nur eine Frage: Was nur, bitte, soll das Italien-Kitschbild auf dem Buchumschlag?
Autor: Rupert Sommer
„Wie ein Teppich lag ich Dir zu Füßen, Alja“. Viktor Schklowski (1893–1984) war verliebt in Elsa Triolet. Die hielt ihn auf Distanz. Auf ihren Wunsch schrieb er ihr Briefe, die nicht von Liebe handeln durften. Aus dieser Spielregel entstand dieses zwischen allen Gattungen oszillierende, hinreißende Buch. Geschrieben in der großen, fremden Stadt Berlin, im Winter 1922/23, exakt vor 100 Jahren. „Der Wind bringt die Uhrzeiger an der Gedächtniskirche zum Schaukeln. / Wir fahren nirgendwohin, wir leben auf einem Haufen inmitten der Deutschen wie ein See inmitten seiner Ufer. / Wenn man mir sagen würde ‚Du kannst zurück‘ – ich würde nach Hause gehen, ohne mich umzudrehen und ohne erst meine Manuskripte einzupacken.“ Alltag im Exil, zwischen all den anderen gut 300.000 russischen „Emigranten und Halbemigranten“: Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg, El Lissitzky, Boris Pasternak, der beste Freund: Roman Jakobson, aber der ist weiter gezogen, nach Prag. „Ich habe keine Angst, ich weiß, wie man einen ‚Don Quixote‘ macht.“ Skizze, Satire, Verdichtung, Varieté … „Buch und Leben sind unentwirrbar verflochten“. Wunderbar übersetzt (und erläutert) von Olga Radetzkaja, mit einem Essay von Marcel Beyer. Gewinner der Hotlist 2022 der unabhängigen Verlage! Ein Geschenk.
Autor: Hermann Barth
Gajerudki ist ein kleiner Ort mitten in Polen und hier lebt es sich langsam und bescheiden. Für manche etwas zu bescheiden: Putzfrau Beatka will höher hinaus, ihre 36jährige Ehe mit dem Automechaniker Heniek stagniert in Langeweile, und als sich eine Saisonarbeit in Holland anbietet, greift sie zu. Wieder zurück, fordert sie vom immer noch verliebten Ehemann Geld für diverse Schönheits-Operationen, eines Tages ist sie aber endgültig fort. Heniek und sein bester Freund Andrzej brechen auf und folgen der A2, der „Autobahn der Freiheit“, gen Westen, sie wollen Beatka zurückholen. Was nun kommt ist ein irrwitziger Roadtrip: Als ihr „geliehener“ Mercedes nach einem Wildwechselunfall hinter der deutschen Grenze liegenbleibt, geht es ohne Geld zu Fuß weiter. Aber hey, Polen sind doch Weltmeister im improvisieren und organisieren und es wäre doch gelacht, wenn die beiden via Berlin nicht ihr Ziel erreichen würden ... Tragikomisch und schwer unterhaltsam lässt der Autor Andrzej und Heniek diverse Abenteuer mit Neonazis, spanischen Studenten, einem schwedischen Hipster und dem gut bestückten deutschen Jäger erleben – dass sich die beiden dabei neu kennenlernen, man humorvoll in die polnisch-deutschen Beziehungen eintaucht und plötzlich auch noch das titelgebende Tier im Wald steht – pures Lesevergnügen.
Autor: Rainer Germann