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Lesungen im Februar: Wenn der Blick nach innen schmerzt

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Wühlt im Ostsee-Sand: Heinz
 Strunk
Wühlt im Ostsee-Sand: Heinz Strunk © Veranstalter

Diese neuen Lese-Abenteuer schärfen die Perspektive wieder nach

Finstere, gar nicht so ferne Vergangenheit: Hans Woller nimmt ein zunächst verwirrtes, dann zunehmend schockiertes Lesepublikum mit in die oberbayerische Provinz der 70er Jahre. Ein Dorfbewohner schießt auf zwei Frauen, zwei Romnja. Eine der beiden stirbt sofort, die zweite junge Frau flieht schwer verletzt. Der Schütze wird verhaftet und vor Gericht gestellt – kommt mit seinem Verbrechen aber vergleichsweise glimpflich davon. Polizei, Justiz und die gesamte Dorfgemeinschaft decken ihn. Hans Woller legt mit „Jagdszenen aus Niederthann“ tatsächlich ein „Lehrstück über Rassismus“ vor, wie es im Untertitel zum Buch heißt. Bei der Vorstellung des beklemmenden Textes diskutiert er mit Radoslav Ganev, Gründer des Vereins Romanity und Vorstand der „Lichterkette“. Moderiert wird der Abend von der „SZ“-Journalistin Annette Ramelsberger, die schon für ihre Berichte vom NSU-Prozess ausgezeichnet wurde. (Literaturhaus, 1.2.)

Von Tragik und Brutalität, aber auch von Glanz, Stolz und einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit erzählt das Romandebüt „Gleißendes Licht“ von Marc Sinan. Der Komponist und Gitarrist rollt darin eine türkisch-deutsch-armenische Familiengeschichte auf. (Kammerspiele Habibi Kiosk, 3.2.)

An der Familie, dem Stolz und an der Scham über die eigene Herkunft und am Wunsch, endlich Schlussstriche ziehen zu können, arbeitet sich auch der Protagonist Roth, ein Jurist und Schriftsteller, im neuen Roman von Heinz Strunk ab. Es geht um eine Abrechnung – und den Rückzug ins titelgebende kleinbürgerliche Ostseebad. „Ein Sommer in Niendorf“ könnte auch so eine Art Gegenstück zum Thomas Manns „Tod in Venedig“ sein – nur dann eben doch fast noch abgründiger. Roth freundet sich mit einem dämonischen Geist an, dem aufdringlichen Strandkorbverleiher, der zudem auch noch Besitzer der örtlichen Schnapsbude ist. Hinzu kommt dessen Freundin, eine Nicht-Traumfrau in jeder Hinsicht, wie Strunk schreibt. „Mir stand beim Lesen oft der Mund offen, und jetzt, wo ich fertig bin, steht er mir immer noch offen“, sagt der Schauspieler Ulrich Matthes. „Das ist wie ein Mythos der Alten Griechen, in die Moderne gebeamt (und nach Niendorf ).“ Verlockend! (Volkstheater, 4.2.)

Wenn Kopfhörer nicht trennen, sondern verbinden: Benno Heisel und Henriette Fridoline Schmidt nehmen ihr Publikum mit auf eine aufregende Reise: „Zwischenhalt“ ist ein Live-Hörspiel, das in der Roten Sonne spielt – zu einer Zeit, als aller Club-Trubel jäh zum Erliegen kam und es hinter den schweren Türen verstörend still blieb. Der Text dazu stammt von Rinus Silzle. (Rote Sonne, 6.2.)

Was Frauen widerverfährt. Und was sie für immer verändert. Ulrike Draesner sieht genau hin und fährt im neuen Roman „Die Verwandelten“ alle hochempfindlichen Antennen aus. Es geht im Mütter-Töchter-Roman um über 100 Jahre Geschichte. Und um seismische Erschütterungen, die man heute noch spürt. (Literaturhaus, 7.2.)

Ein Spiel mit den Erwartungen inszeniert Mohamed Mbougar Sarr, der neue Star der frankophonen Literaturwelt, der in Senegal aufwuchs und in Frankreich studierte. Und er dreht der oft überhitzten Literaturszene eine Nase. Sein doppelbödiger Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschheit“ erzählt von einem mysteriösen Autor, der in den 30 Jahren als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert wurde, dann aber komplett verschwand. Die Suche gestaltet sich schwierig, im Sog von Krimitradition und Kolonialismusaufarbeitung. (Literaturhaus, 8.2.)

Der sympathischste Flachland-Alpinist Münchens weitet weiter den Horizont: Achim Bogdahn vom BR feiert in „Unter den Wolken. Meine Deutschlandreise auf die höchsten Berge aller 16 Bundesländer“ die schönsten Umwege und liebenswert skurrile Mitbürger. Mit Livemusik von Newcomerin Malva. (Volkstheater, 9.2.)

Wie nimmt man die Welt wahr, wenn man sich auf die Meldungen der eigenen Sinnensorgane nicht so recht verlassen kann? Ursula Herzog hat mit „Mein Leben im Anzug“ einen zu Herzen gehenden Roman verfasst. (Münchner Literaturbüro, Milchstr. 4, 17.2.)

Was für ein Fest: Die neue Isar Slam-Ausgabe bringt die besten Mikrofon-Poetinnen und -Poeten in die Stadt, um an der Isar nicht nur die Worte rauschen zu lassen. Ein zentraler Star des Abends ist diesmal der Schnellreimer Lucas Fassnacht aus Erlangen, der mit seinen Hyperperformances den erstaunt Zuhörenden den Atem raubt. München vertritt diesmal unter anderem die Stadtmeisterin Meike Harms aus Gilching. (Muffathalle, 22.3.)

Björn Bicker erzählt dagegen vom Verstummen, vom Stocken und Nicht-Mehr-Weiterkönnen: So findet Amina keine Worte, als ihr in der U-Bahn ein Mann ins Gesicht spuckt. Sie schlägt ihn nieder. Ein vierjähriges Kind hört plötzlich ganz mit dem Sprechen auf. Igor greift einen Mitschüler mit dem Messer an. Und im Kopf eines Mannes lassen sich die vielen Stimmen nicht mehr zum Schweigen bringen. Bicker stellt Menschen vor, die um ihre Identität, ihren Platz in der Welt und manchmal auch nur um ein Wort ringen. Leicht ist das nicht. (Literaturhaus, 27.2.)

Autor: Rupert Sommer

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