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Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow: „Innere Zerrissenheit ausloten“

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Die Band Tocotronic
Stehen (und sitzen) für Indie-Rock mit Haltung: Tocotronic © Gloria Endres de Oliveira

Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow verspricht den Fans beim Konzert am 24.11. einen Mix aus drei Dekaden. Brisanter könnten die neuen Songs nicht sein.

Herr von Lowtzow, niemand konnte ahnen, wie schlimm sich die Dinge in so kurzer Zeit entwickeln. Aber wie wie stark ist denn Ihr Bauchgrimmen, wenn man ein Album mit dem Titel „Nie wieder Krieg“ rausbringt – selbst wenn es „davor“ erschien?
Wenn man angesichts dieses brutalen Angriffskriegs auf die Ukraine und der fast gleichzeitigen Veröffentlichung des Albums keine Bauchschmerzen, Selbstzweifel oder Ähnliches hätte, dann wäre was verkehrt. Es ist ganz selbstverständlich, und ich finde das auch ganz wichtig, dass man angesichts solcher Bedeutungsveränderung über die eigene Kunst und das eigene Schaffen reflektiert. Aber wie Sie richtig erwähnen, ist das Album am 28. Januar erschienen - also gut einen Monat vor diesem Überfall. Und die Songs auf diesem Album sind doch wesentlich davor entstanden. Nämlich in den Jahren 2018 und 2019.

So früh schon?
Im Rückblick kommen mir diese Songs aus dieser Zeit, die vielleicht die letzte unbeschwerte Zeit vor Corona und diesen kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa war, sehr dunkel und prophetisch vor.

Die Propheten haben es ja meist schwer. Es kann ja kein angenehmes Gefühl sein, wenn man Sachen vielleicht früher schon spürt, die dann tatsächlich eintreten. Sind die Monster, die im Schrank waren, dann doch auf die andere Seite gekommen?
Das könnte man vielleicht so sagen. Genau mit dieser Ambivalenz spielt ja eigentlich das ganze Album. Man weiß eben nie: Ist man auf der Seite der Monster oder ist man auf der anderen Seite der Schranktür? Und um diese innere Zerrissenheit, die in vielen von uns wohnt und ich für sehr zeittypisch halte, so gut es geht auszuloten, sind wir mit den Songs ja angetreten. Das war das Ziel: Diese Zerrissenheit in Songs zu verpacken. Deshalb auch in metaphorischer- und vielleicht ein bisschen hintersinnigerweise der Titel: „Nie wieder Krieg“.

Wie meinen Sie das?
Jemand, der innerlich zerrissen ist oder im Krieg mit sich selber steht, wünscht sich ja vielleicht genau diese Art von innerem Pazifismus.

Niemand von uns heute wahrscheinlich nie erwartete, dass er sein eigenes Leben bereits in historischer Abschnitte einteilen muss. Aber es gibt Phasen „davor“ und „danach“, vor Corona, vor dem Krieg. Wie sehr spüren auch Sie diese Zeitenwende, von der Olaf Scholz spricht?
Rückblickend erscheinen die Jahre 2018 und 2019 tatsächlich auch für mich wie eine ganz andere Zeit. Viele Leute sprachen 2018 von so einer Art Jahrhundertsommer. Wir waren zu der Zeit auf Tour und hatten dann auf vielen Festivals gespielt: Ich spürte bei den Fans so eine Ausgelassenheit, und es lag etwas in der Luft, von dem man nun sagen kann: Es war vielleicht das letzte Mal, dass man so eine Unbeschwertheit spürte.

Das stimmt wehmütig, trifft es aber wohl ganz gut.
Es erscheinen ja sehr viele Krisen am Horizont. Es ist der Ukraine-Krieg, es ist der Klimawandel mit extremen Wetterphänomenen auch in diesem langen Sommer. So etwas wie ein Jahrhundertsommer kann sich dann rasch in eine Drohung verwandeln. Und natürlich Corona. Wenn man an einem Album arbeitet, dauert das sehr lange – im Gegensatz zu einem Tweet oder einen Instagram-Post. Wir sitzen an solchen Arbeiten zwei bis drei Jahre. Zuletzt verzögert sich alles bei uns wegen Corona und anderer Verschiebungen sogar noch länger. Bei dieser Arbeit an so einem Album und an diesen Songs lagert sich die Zeit in Sedimenten ab. Wenn man es dann herausbringt, sieht man eben, wie sich die Zeit gewandelt hat. Man kann man dann so eine Art Archäologie betreiben.

Wenn man ein Projekt über so lange Zeit verfolgt hat, möchte man es natürlich auch mal zu einem guten Ende bringen. Aber wenn Sie solche Songs dann doch noch mal anschauen: Muss man da noch mal ran? Andere Künstler, etwa Kabarettisten mit dezidiert politischem Anspruch, haben bei Ihren Programmen ja oft fast ein bisschen Angst, dass sie die Zeitgeschichte überholt.
Nein, ich finde nicht, dass man die Songs anpassen muss. Sie sind Dokumente aus der Zeit, in der sie geschrieben wurden. Und ich finde gerade eben die die Veränderungen, die Songs unterliegen, an unser Arbeit das allerspannendste. Songs verändern sich, ohne dass ich was dazu tun müsste. Deswegen ist es eben auch kein Kabarett, wobei ich überhaupt nichts gegen Kabarett habe. Und unsere Songs sind auch ganz bestimmt kein Journalismus, wobei ich auch nichts gegen Journalismus habe.

Puh!
Was wir machen, ist eben Popmusik. Und die entsteht im Zusammenspiel mit den Hörenden und den Produzenten - also uns.

Auch als eine doch so routinierten Band, die über die Jahre vieles erlebt hat: So ganz dürften die Erschütterung an Ihnen nicht vorbeigegangen sein. Wenn wie Sie sagen, die Hörenden wesentlicher Bestandteil des gemeinsam Prozesses und Kunsterlebnisses sind, wie fühlten sich denn dann der lange erzwungene Rückzug in den Dachsbau an – und trotz aller Offenheit dann doch die Vorsicht und Zurückhaltung bei der Rückkehr ins Freie?
Es gibt zwei unterschiedliche Arbeitsbereiche bei uns: Das Eine ist es, ein Album zu erstellen. Das andere ist das Live-Spiel. Dem Album, das muss ich ganz ehrlich sagen, hatte der Aufschub durch die Corona-Pandemie eigentlich ganz gut getan. Für das Songmaterial war das – wider Willen – gar nicht schlecht. Ich mag die Studioarbeit und das Rumfriemeln an den Songs. Wir hatten so ungefähr ein halbes bis dreiviertel Jahr Zeit gewonnen.

Klingt gut.
So konnten wir die Songs, die eigentlich schon vorbereitet waren, um damit endgültig ins Studio zu gehen, noch ein bisschen verfeinern und teilweise revidieren. Dieser Aufschub in unserem ansonsten strengen Zeitplan war ganz hilfreich. Was die Live-Konzerte anbelangt: Es geht es natürlich so wie allen anderen du Künstlerinnen und Künstlern, aber auch Clubbetreibern und allen Kollegen, die in der Technik oder Bühnenlogistik, arbeiten: Die Lage ist fatal. Wir sind auf die Einnahmen von Live-Konzerten angewiesen. Wenn die nicht stattfinden können oder zu wenige Leute kommen, ist es für uns alle sehr, sehr schwierig.

Wie muss man sich das bei dem Konzert in München vorstellen: Ihre Alben haben ja oft Bögen und Querbeziehungen zwischen den Songs, die oft nicht unbedingt hintereinander folgen. Wie schwer ist es denn sowas, dann auf die Bühne zu bringen?
Wer uns live schon mal gesehen hat, weiß, dass wir versuchen, immer ja ungefähr die Hälfte eines neuen Albums in einen in unser grundsätzliches Live-Programm einzugliedern. Da ist dann die Aufgabe eher: Wie gibt es Querverbindungen zu den den älteren Songs? Wie kann ein Programm kuratiert, das in sich Sinn ergibt und sich Spannungsbogen ergeben? Wenn wir live spielen, führen wir sicher nicht nur das neue Album auf. Ich denke, das wäre vermessen und auch ein bisschen steif.

Es gibt also Hoffnung auf Zugaben-Hits, die Ihnen verlässlich abgefordert werden?
Wir haben das eigentlich immer schon so gehalten: Es wird eine Mischung aus Songs unseres Schaffens aus mittlerweile ja schon drei Dekaden. Es wird Songs vom ersten Album geben, wenn wir das Gefühl haben, das passt jetzt vielleicht gut. Manche der Songs auf diesem Album „Nie wieder Krieg“ hätten so auch auf einem unserer ersten, zweiten oder dritten Alben Platz finden können. Es ergeben sich immer spannende Bezüge. Das hoffe ich zumindest.

Interview: Rupert Sommer

Tocotronic, gegründet 1993 in Hamburg und benannt einst nach einer japanischen Spielkonsole, spielt am 24. November das lange erwarte „Nie wieder Krieg“-Konzert in der Tonhalle im Werksviertel. Alle Infos zu Band, Tour und neuem Album gibt’s hier: www.tocotronic.de

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