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Sex ohne Romantik: „Meine Stunden mit Leo“ von Sophie Hyde

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Von: Andreas Platz

„Meine Stunden mit Leo“ von Sophie Hyde
„Meine Stunden mit Leo“ von Sophie Hyde © Wild Bunch Germany

Ein Film über Lust, Lebenslügen und die heilende Kraft der Sexualität mit einer wunderbaren Emma Thompson

Einen Orgasmus hat sie noch nie erlebt, der Sex mit ihrem Mann lief nach dem immer gleichen Ritual ab. Etwas ruckeln in Missionarsstellung und das war‘s. Seit zwei Jahren verwitwet, will die pensionierte Religionslehrerin Nancy Stokes nun endlich sexuelle Lust erkunden, und per Crash-Kurs nachholen, was sie in mehr als 30 Jahren Ehe verpasst hat. Im anonymen Hotelzimmer erwartet sie den Callboy Leo Grande und trinkt sich schon mal mit einem Gläschen Sekt Mut an, bis der herzige Twenty-Something auftaucht.

Leo entpuppt sich bald nicht nur als Experte in Sachen körperlicher Liebe, sondern auch als erfrischend verständnisvoller und charmanter Gesprächspartner. Auf das erste intensive Treffen folgen zwei weitere, bis Nancy eine ungeschriebene rote Linie überschreitet. Wie sich diese völlig gegensätzlichen Menschen einander annähern, das wird unter der Regie der Australierin Sophie Hyde zum vergnüglichen Trip, bei dem Body and Soul ihre Streicheleinheiten abkriegen, Emma Thompson und Daryl McCormack einander erforschen und zur Höchstform auflaufen.

Die Chemie zwischen zweifacher Oscar-Preisträgerin und irischem Newcomer stimmt perfekt, der bis auf wenige Szenen feste Standort erinnert an eine Theaterbühne, wirkt aber nie langweilig, monoton oder künstlich. Und Hyde vermeidet dabei alle erdenklichen Stolperfallen wie das Herumreiten auf Klischees wie „ältere Mittelschichtsfrau trifft jungen Lover“, platte Witzeleien oder Hollywood-typisches Gestöhne und Geächze bei sexuellen Verrenkungen. Nicht zu toppen ist die Thompson, wenn sie bei der zweiten Begegnung ernsthaft eine Liste mit Sexpraktiken präsentiert, die sie gerne „abarbeiten“ würde. Auf Leos direkte Frage „Willst du mit dem Blow Job anfangen?“ reagiert sie wie ein Teenie vor dem ersten Kuss und lässt sich erst einmal zur Auflockerung zu einer leichten und erotischen Tanzeinlage motivieren, bei der sie nach und nach Scheu und Scham verliert, Begehren und Genuss zulässt.

Irgendwann geht es um mehr als nur „Vertragserfüllung“, finden sich die beiden in einer Machtbalance auf Augenhöhe, entsteht ein Gefühl von Intimität zwischen Fremden, was braucht es da noch Romantik. Leos Ansage „Ich bin der, den du haben willst“ eröffnet ungewohnte Möglichkeiten. Mit Esprit, Mitgefühl und einer Portion Verwundbarkeit zeigt McCormack mehr als die üblichen Facetten eines Sexarbeiters, gibt Einblick in eine fragile Psyche, wenn er über das diffizile Verhältnis zu seiner Mutter erzählt, aber auch Thompson wagt sich raus aus dem Schneckenhaus von Distanz und Pragmatismus, offenbart ihre tiefen Schwächen und Ängste. Und der Humor kommt nicht zu kurz, die Selbstironie, das Lachen über sich selbst. Schmunzeln dürften Cineasten, wenn Nancy vor dem endgültigen Abschied ihren echten Namen nennt, Susan Robinson. „Oh, Mrs. Robinson“ kann sich Leo, der Meister der Menopause, da nicht verkneifen.

Die Aufforderung dieser leichten und nie moralinsauren Komödie, auf gesellschaftliche Regeln und Normen zu pfeifen, die uns am Leben hindern, selbst gesetzte Grenzen zu überwinden und verborgene Wünsche zu erfüllen, tut einfach gut. Am Ende betrachtet Emma Thompson ihren nackten und schutzlosen Körper im Spiegel, steht zu Röllchen, Falten und Erfahrungen und hat sie gewonnen: Die Liebe zu sich selbst.

Autorin: Margret Köhler

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