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„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ von Hans-Christian Schmid

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Filmtipp „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ von Hans-Christian Schmid
Wir sind dann wohl die Angehörigen mit Adina Vetter und Claude Heinrich © Pandora Film

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ von Hans-Christian Schmid: Ein Trauma für das ganze Leben

„Ich bin‘s, ich bin frei“: Nach Zahlung eines Lösegelds in Millionenhöhe wurde Jan Philipp Reemtsma von seinen Entführern im Wald ausgesetzt. Vom ersten Haus des Dorfes, wo noch Licht brennt, ruft er seine Frau an. Das Ende einer spektakulären Entführung. 33 Tage war der Hamburger Multimillionär 1996 in der Hand der Verbrecher, eingesperrt in einem Kellerverlies. Ende gut? Alles gut?

Nicht für den heute 39-jährigen Sohn Johann Scheerer, der seine traumatischen Erinnerungen gut 20 Jahre später in einem sehr persönlichen Rückblick veröffentlichte. Ereignisse, die seine Familie an den Abgrund brachten. Hans-Christian Schmids Film basiert auf Scheerers gleichnamiger Autobiografie und erzählt, wie seine Mutter und der damals 13-Jährige die Zeit des Wartens, des Hoffens und der Enttäuschung durchlebten.

Am Nachmittag des 25. März 1996 zofft sich der Junge noch mit seinem Vater. Am Abend geht der ins gegenüber liegende Bürohaus, um ein wenig zu arbeiten. Als seine Frau Ann Kathrin nach ihm schauen will, findet sie auf der Mauer einen Erpresserbrief, beschwert mit einer Handgranate. Ab da ist nichts mehr wie zuvor. Am anderen Morgen weckt sie Johann mit dem Satz „Wir müssen jetzt ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden“. Noch rechnen sie mit der baldigen Freilassung, soll die Forderung nach 20 Millionen Mark schnell erfüllt werden. Die Villa verwandelt sich in eine hochtechnisierte Einsatzzentrale. Zwei Polizisten als „Angehörigenbetreuer“ weichen nicht von ihrer Seite, argwöhnisch betrachtet vom ebenfalls anwesenden Anwalt.

Nach einigen fehlgeschlagenen Geldübergaben entscheidet Ann Kathrin, ohne Polizeiapparat mit den Entführern zu verhandeln, um ihren Mann zu retten. Schmid und sein Drehbuchautor Michael Gutmann vermeiden ausgetretene Pfade von True Crime-Formaten, halten ohne Action oder Bilder vom Überfall, den Tätern oder dem gefesselten Entführten den Adrenalinspiegel hoch, konzentrieren sich ganz auf die Familiengeschichte, das Dreieck Vater, Mutter, Sohn. Erstaunlich, dass sie kaum die Beherrschung verlieren, keine unkontrollierten Ausbrüche, lautes Weinen oder heftige Emotionen zeigen. Man rettet sich in eine scheinbare Normalität und versucht, stark zu sein, auch wenn Ann Kathrin nervös mit dem Rauchen wieder anfängt. Zur Entspannung geht Johann mit einem Freund der Familie auf den Rummel, sucht Filme für den Abend aus, man spielt Tischtennis und Karten, isst gemeinsam am großen Tisch.

Die Seelenqualen der Opfer kann man nur erahnen. Aber sie ist zu spüren, die permanente Spannung und wachsende Angst, die Nerven aufreibende Warterei auf einen Anruf der Entführer. Dazwischen immer wieder die verzweifelten Briefe des Vaters, der seinen Kidnappern mehr Professionalität bescheinigt als der Polizei. Die stolpert dilettantisch von einem Fehler in den nächsten, allein die Faxbedienung ist eine Herausforderung. „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ funktioniert nicht zuletzt durch die brillante Besetzung mit Adina Vetter und Claude Heinrich in den Hauptrollen. Zehn Jahre nach seinem letzten Kinospielfilm „Was bleibt“ ist Hans-Christian Schmid ein großer Wurf gelungen. (Ab 3.11.)

Autorin: Margret Köhler

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